„Unser Osten ist ein romantisches Klischee“

Der Eiserne Vorhang in den Köpfen ist nicht wirklich gefallen, er hat nur Rost angesetzt. Welches Bild haben wir von den Gesellschaften im Osten unseres Kontinents? Wie könnte Europa auch auf kultureller Ebene endlich zusammenwachsen? Ein Gespräch mit Katrin Klingan, die genau daran arbeitet

INTERVIEW SUSANNE LANG

taz: Frau Klingan, hat sich Ihr Bild des Ostens mit dem Projekt verändert?

Katrin Klingan: Sagen wir so, wenn wir über den Osten beziehungsweise Osteuropa sprechen, welche Bilder tauchen da allgemein auf? Gar keine, jede Menge romantische Klischees oder meist problematische Medienbilder. Damit muss man sich auseinandersetzen.

Welche Bilder wollen Sie transportieren?

Unseren Veranstaltungstitel „Bilder des Ostens“ kann man auf mehreren Ebenen lesen – aber gerade die Klischees wollen wir ironisieren und aufbrechen. Wichtiger ist uns aber, die Interessensblockade für diese Region zu lösen. Die Frage ist doch: Will man Mittel- und Südosteuropa weiterhin rein geografisch definieren oder über bestimmte Themen, die in den sehr unterschiedlichen Gesellschaften des östlichen Europas verhandelt werden?

Woher diese Blockade?

Teilweise ist es Arroganz, teilweise ein Abwehrmechanismus: Solange die Menschen im Westen den Osten als Osten abbuchen und beibehalten, kommt er ihnen nicht nahe.

Sie sind ihm nun über vier Jahre hinweg sehr nahegekommen. Welche Bilder sind geblieben?

Die eindringlichste Erfahrung war der Einblick in das Alltagsleben, wie sich das Leben dort anfühlt, abseits dessen, was uns Medien oder andere Kulturprojekte vermitteln. Eine Stadt wie Priština zum Beispiel wird uns nach wie vor über Kriegsbilder veranschaulicht, traditionelle Elendsbilder also. Priština ist aber absolut das Gegenteil, eine unglaublich junge, moderne und lebendige Stadt mit Hunderten von Cafés und Kneipen.

Das hat Sie erstaunt?

Überrascht, ja. Das Kosovo ist die jüngste Gesellschaft Europas, 70 Prozent der Bevölkerung sind unter dreißig Jahre alt. Das prägt ein Stadtbild wie Priština, die Hauptstadt des internationalen Protektorats Kosovo, weil niemand die Stadt ohne Visum verlassen kann. Auch das war eine spannende Erfahrung, wie sich die Anwesenheit der internationalen Gemeinschaft in die Ikonografie einer Stadt einprägt, da alle immer von KFOR-Soldaten umgeben sind. Um diese ambivalenten Bilder geht es uns.

Für die sich der Westen vielleicht auch nicht interessiert, weil er im Stillstand verharrt, während im Osten junge, dynamische und flexible Gesellschaften entstehen?

Ich habe immer ein Problem mit Begriffen wie Flexibilisierung, die unmittelbar bei Arbeitsmigration enden. Das sind zutreffende Phänomenbeschreibungen, aber sie bleiben an der Oberfläche. Gerade die Generation von Mitte zwanzig bis Anfang dreißig, die die Umwälzungen als Jugendliche miterlebt haben, die noch in einem anderen System zur Schule gegangen sind, in einer anderen Familienstruktur geprägt wurden, diese Generation führt eine sehr intensive, auch kritische Auseinandersetzung mit ihrer eigenen Gesellschaft.

Sie meinen, die Jungen wollen nicht selbstverständlich in den Westen emigrieren?

Nein. Sie haben ein großes Bewusstsein für ihre eigene Identität und sind gleichzeitig aber sehr offen, sich auf anderes und Neues einzulassen. Andere Sprachen zu lernen ist eine Selbstverständlichkeit. Moldau zum Beispiel, diesen vergessenen und verlorenen Ort, der zu Zeiten der Sowjetunion ein sehr privilegierter Landstrich war und heute am Rand dieses Europas zerrieben wird zwischen der Ukraine und einer ukrainischen Exklave an der Schwarzmeerküste, diesen wunderschönen Ort verlässt niemand zwingend ohne Grund, im Gegenteil: Die Leute dort sind von einer sehr widerständigen, engagierten Kraft getrieben, sich mit der eigenen Gesellschaft auseinanderzusetzen.

Demnach sollte die Idee von einem gemeinsamen Europa nicht nur wirtschaftlich und politisch, sondern auch kulturell gedacht werden?

Zunächst hat die gesellschaftliche Entwicklung in Osteuropa nichts mit Schlagworten wie Europa der kulturellen Vielfalt zu tun, sondern mit einer prinzipiellen Internationalisierung und Öffnung. Eine Frage, über die ich viel nachdenke und die ich heute, nach den vier Jahren Projekt aber überhaupt nicht mehr beantworten kann, lautet: Was soll dieses kulturelle Europa sein? Die politische und ökonomische Idee dahinter ist die einzig klare, zielgeführte. Sobald man beginnt, dieses Europa mit kulturellen Begriffen aufzuladen, steht man vor einem riesigen Problem.

Weshalb sprechen dann so viele von einem kulturellen Projekt Europa? Ist es Ausdruck einer Sehnsucht?

Ich glaube, es handelt sich um eine pathetische Erzählung, die bei uns aufgebaut wird. Um ein Historisierungsprojekt, wenn Sie so wollen: Was früher einmal ein Kulturraum war, hat jetzt die Möglichkeiten, wieder zu erwachen. Dementsprechend werden permanent Spiele von Verlust und Wiederfinden inszeniert.

Sie haben über vier Jahre versucht, einen kulturellen Austausch anzuregen. Ist Ihr Projekt kein Part dieser Spiele?

Bei uns ging es um wechselseitigen Dialog, nicht um einen vorweg meist vom „Westen“ festgelegten Konsens, wie ein Europa auszusehen habe. Deshalb war uns wichtig, zuerst selbst in die Länder zu reisen und dort die aktuellen Fragen aufzugreifen, Projekte zu erarbeiten und erst dann gemeinsam mit den Künstlern aus dem östlichen Europa den Austausch mit dem „Westen“ anzunehmen. Vor allem in Ostdeutschland war diese Gegenspiegelung spannend. Zwei Städte wie Dresden und Sofia zum Beispiel, die mit ähnlichen Veränderungen der städtischen Erscheinungsbilder konfrontiert sind, aber völlig verschiedene Ansätze haben. Sofia bordet über an Investment, an Werbung, die Stadt boomt. Dresden hingegen zieht sich eher wieder zurück und besinnt sich komplett auf das kulturelle Erbe, die Stadt historisiert sich. Der Austausch in diesen beiden Städten war wirklich spannend.

Also kann es kein gemeinsames Ziel namens Europa geben, auf das man sich von unterschiedlichen Startpositionen aus zubewegt?

Das Argument der nachholenden Moderne jedenfalls kann man abhaken. Es handelt sich immer um verschiedene kulturelle Szenen in Europa, aber das beschreibt längst keine Idee von einem Kulturraum Europa.

Ein Teilnehmer Ihres Projekts kommt zur noch provokanteren These, man müsse den Osten als Problem begreifen. Stimmen Sie zu?

Nein.

Warum lachen Sie?

Europa ist eine große Herausforderung.

Für den Westen, für Deutschland oder für den Osten?

Ich glaube, für alle. Viele im Westen vergessen schnell, dass dieses Osteuropa in sich alles andere als homogen ist. Was hat ein Bulgare mit einem Rumänen zu tun? Die Bewegungen dort sind mindestens genauso ungleichzeitig wie in Ost und West. Unter Umständen wird da die Annäherung noch länger dauern.

Im Westen jedenfalls wird gerade die Freiheit der Kunst wieder als besonderer Wert gehandelt. Welche Funktion hat die Kunst im Osten innerhalb der dort stattfindenden Auseinandersetzung mit den eigenen Gesellschaften? Kritik?

Das wäre eine komplette Überbewertung, aber auch eine Reduzierung von Kunst. Kunst ist ein Teilbereich dieser Gesellschaften. Und eine Intention unseres Projektes war es, Spuren in diesen Gesellschaften, in den Städten zu hinterlassen. Das sollte man nicht überfrachten, aber es hat natürlich die Kraft.

Welche Spuren lassen sich denn finden?

In Priština war das Projekt „Missing Identity“ ein großer Erfolg, es wird jetzt als interdisziplinärer Studiengang an der Universität verankert. In Moldau wiederum gibt es nun ein internationales, unzensiertes Kulturmagazin, das alle zwei Wochen im staatlichen Fernsehen ausgestrahlt wird. Über das Magazin haben nicht nur die Künstler ein wichtiges Forum, sondern zum ersten Mal hat ein breites Fernsehpublikum die Chance, mit zeitgenössischer Kunst konfrontiert zu sein. Und erstaunlicherweise ist es gerade die ländliche Bevölkerung, die das Magazin sehr interessiert annimmt. Wie wertvoll das ist, kann man sich hier gar nicht mehr vorstellen.

Einen besonders guten Stand hat Kulturfernsehen hier aber auch nicht, oder?

Na ja, lustigerweise wird das Magazin „AlteArte“ bei uns gerne auf Film- und Medienfestivals gezeigt, weil es schon so abseits unserer Vorstellungskraft ist, wie gutes Kunst- oder Kulturfernsehen auch aussehen kann.