Das Offensichtliche übersehen

In pointierten Essays zeigen Frank Bajohr und Dieter Pohl, wie die Deutschen vom „offenen Geheimnis“ Holocaust wissen konnten und wie lange die Alliierten den Genozid ignorierten

Autorenpech. Kaum hatte Peter Longerich sein ebenso vielbeachtetes wie kontroverses Werk über die Deutschen und die Judenverfolgung „Davon haben wir nichts gewusst!“ herausgebracht, da folgte ihm zum gleichen Thema die Doppelstudie von Frank Bajohr und Dieter Pohl auf dem Fuße.

Beide Autoren, Zeitgeschichtler aus Hamburg und München, gehören der jüngeren Historikergeneration an. Bajohr widmet sich dem Holocaust als „offenem Geheimnis“ (bei Longerich „öffentliches Geheimnis“), Pohl analysiert, wie die Öffentlichkeit und die Regierungen in den Ländern der Anti-Hitler-Koalition auf die Nachrichten vom Massenmord an den europäischen Juden reagierten. Zudem geht es um die Versuche der deutschen Propaganda, diese Reaktionen zu konterkarieren – ein bislang wenig erforschtes Thema.

Bajohrs Studie stützt sich im wesentlichen auf die gleichen Quellen wie die Longerichs. Dennoch bietet sie, wie auch der Aufsatz Dieter Pohls, neue Einblicke. Beide Arbeiten argumentieren pointiert. Das ist keine leichte Aufgabe angesichts des schwierigen Themas, über kollektive Stimmungen, Gefühle und Kenntnisse während der Nazi-Zeit urteilen zu müssen. Und außerdem sind beide gut lesbar.

Während Longerich umfänglich die verschiedenen Etappen der nazistischen antijüdischen Propaganda und deren Widerhall in der Bevölkerung darstellt, steuert Bajohrs Studie unmittelbar die Haltungen unter der Bevölkerung an. Sein Ansatz ist sozialhistorisch geprägt. In den verschiedenen Etappen der Nazi-Diktatur sieht er nicht nur den Gegensatz zwischen Regime und Gewaltunterworfenen, sondern auch eine aktive, interessengeleitete Mitwirkung großer Bevölkerungsteile, ganz in Übereinstimmung mit der These von der „Zustimmungsdiktatur“. Allerdings bröckelt nach Bajohr der antijüdische Konsens nach der Kapitulation der 8. Armee in Stalingrad. Mit dem Schwinden aller Siegeshoffnungen steigt die Angst vor der Strafe, gefolgt von Gewissensbissen und Schuldprojektionen.

Bajohr lässt keinen Zweifel, dass eine große Zahl von Deutschen, sicher die Mehrheit, in der einen oder anderen Art von dem Massenmord an den europäischen Juden Kenntnis hatte. Dass nur wenige „Volksgenossen“ in der Lage waren, ein umfassendes Bild der Mordaktionen zu gewinnen, schreibt er eher einem Nicht-wissen-Wollen zu als den Schwierigkeiten der Nachrichtenbeschaffung.

Obwohl es hier, etwa bei der Bewertung von Tagebuchaufzeichnungen, unterschiedliche Auffassungen zwischen Longerich und Bajohr gibt, stimmen beide Autoren doch in der Hauptsache überein: Charakteristisch für die Haltung nach Stalingrad war das Bedürfnis, sich dem Wissen über das Offensichtliche zu entziehen und in „ostentative Ahnungslosigkeit“ (Longerich) zu entfliehen. Ob allerdings, wie Bajohr meint, der grundlegende antijüdische Konsens zwischen der Nazi-Führung und der Bevölkerung in den beiden letzten Kriegsjahren zerbrach, darüber lässt sich nur spekulieren. Eine Reihe von Bajohr aufgeführte Indizien sprechen allerdings dafür, nicht zuletzt die sich abzeichnende Niederlage des „Dritten Reiches“.

Pohls Studie zeichnet nach, wie früh die Alliierten vom Beginn der nazistischen Massenmorde unterrichtet waren und in wie geringem Umfang sie öffentlich reagierten. Erst 1943, nach der „Räumung“ des Warschauer Ghettos, nahmen Pläne für ein Kriegsverbrechertribunal konkrete Form an, konnten allerdings nicht verhindern, dass die Mordaktionen weitergingen. Präzise beschreibt Pohl die Gegenpropaganda der Nazis, die sich vor allem an der Aufdeckung des Massengrabs von Katyn festmachte, wo der sowjetische Geheimdienst tausende polnischer Offiziere und Funktionsträger ermordet hatte. Diese groß angelegte Propagandaaktion sollte die Glaubwürdigkeit der von der Sowjetunion vorgelegten Beweise für die nazistischen Mordaktionen auch in der westlichen Öffentlichkeit zerstören. Angesichts der zunehmenden Dichte der nazistischen Verbrechensspuren wie der Aussagen von NS-Tätern blieb die Propaganda-Gegenoffensive ohne Erfolg.

Pohl wirft nicht die Frage auf, ob militärische Aktionen der Alliierten wenigstens 1944 das Leben von KZ-Häftlingen hätten retten können. Er lässt aber keinen Zweifel daran, dass die Nazi-Führung gewillt war, ihre Vernichtungspolitik „bis zum Ende“ durchzuführen. Ebenso eindrucksvoll wie deprimierend schildert Pohl, mit welchem Erfolg eine große Zahl von Mördern und Helfershelfern sich nach 1945 der Verfolgung entzog, welch durchschlagende Wirkung die Legende von der Alleintäterschaft der SS entfaltete und wie so viele Deutsche sich nach der Kapitulation von Mittätern und Mitläufern zu Opfern stilisierten.

CHRISTIAN SEMLER

Frank Bajohr, Dieter Pohl: „Der Holocaust als offenes Geheimnis. Die Deutschen, die NS-Führung und die Alliierten“. C. H. Beck, München 2006, 156 Seiten, 18,90 Euro