Sankt Prekarius

Mit einem literaturwissenschaftlichen Kongress, einer Ausstellung zu Walter Benjamin und fünf zeitgenössischen Künstlern, einem Film- und Videoprogramm und einer Dokumentation von Benjamins Schriften diskutiert Berlin den großen Denker

von MARCO STAHLHUT

Walter Benjamin liebte Rätselbilder, und ein Rätsel ist er geblieben, trotz seiner zeitweiligen Bedeutung als Kultfigur für die akademische Linke. Von weitem betrachtet scheint man ihn zu kennen, aber je näher man an sein Werk herantritt, desto mehr verschwimmen die Züge seiner intellektuellen Physiognomie. Das hat schon zu seinen Lebzeiten und mehr noch nach seinem viel zu frühen, tragischen Tod zu heftigen Diskussionen geführt. Paradigmatisch hierfür bleibt der Kampf zwischen seinen Freunden Theodor W. Adorno und Gershom Scholem darüber, ob der eigentliche Kern des Benjamin’schen Denkens in der Nähe der späteren Kritischen Theorie oder eher bei einem religiös verstandenen Judentum anzusiedeln ist. Paradoxerweise sichert gerade die Unmöglichkeit, Benjamin einfach nur einem Lager zuschlagen zu können, ihm bis heute seine Aktualität.

Den puren Fakten nach sind Leben wie intellektueller Werdegang inzwischen wohl bekannt. Was vielleicht erklärt, warum Formulierungen à la „Wie Sie wissen“, „Wie wir wissen“ und „bekanntlich“ – auf dem am Sonntag zu Ende gegangenen Berliner Kongress des Zentrums für Literaturforschung zu Walter Benjamin ebenso häufig wie selbstbewusst gebraucht wurden. Dass die Vorträge prominenter Wissenschaftler im prunkvollen Ambiente des Apollo-Saals der Staatsoper stattfanden, muss angesichts Benjamins eigener akademischer Biografie mit Melancholie betrachtet werden.

Seine Hoffnungen auf eine universitäre Laufbahn scheiterten 1925 bereits recht früh. Er arbeitete fortan vor allem als Publizist und Übersetzer. Seit Mitte der 20er-Jahre begann Benjamin auch, mit dem Kommunismus zu sympathisieren, Anfang der 30er-Jahre entwickelte sich eine engere Bekanntschaft mit Bertolt Brecht. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten ging Benjamin im März 1933 nach Paris ins Exil. Seine finanziellen Einkünfte beschränkten sich hier weitgehend auf ein bescheidenes Mitarbeitergehalt des nach New York emigrierten Instituts für Sozialforschung. Darüber hinaus war er auf die Unterstützung von Freunden, unter ihnen Hannah Arendt und Gretel Adorno, angewiesen. Nach dem Angriff Nazideutschlands auf Frankreich im Mai 1940 floh Benjamin erneut, zuerst nach Lourdes, später nach Marseille. Gegen Ende September überquerte er mit einer Gruppe von Flüchtlingen die Pyrenäen, wurde aber gemeinsam mit den anderen von den spanischen Grenzwachen in Port Bou zurückgewiesen: Es gab Probleme mit den Papieren. Höchstwahrscheinlich nahm sich Benjamin in dieser Nacht mit einer Überdosis Morphium das Leben. Am nächsten Tag gelang dem Rest der Flüchtlingsgruppe ein sicherer Grenzübertritt.

Der Großteil von Benjamins Schriften erschien erst Jahrzehnte nach seinem Tod. Es tut der Bedeutung des Denkers Benjamin keinen Abbruch, dass es auch sein Leben und vor allem dessen Ende waren, die bis heute zur Aura seines Werks beitragen – um einen für Benjamin wichtigen Begriff ganz unbenjaminisch zu verwenden.

In diesen Tagen erhält der deutsch-jüdische Denker in Berlin daher zu Recht eine umfassende Würdigung. Neben dem bereits erwähnten literaturwissenschaftlichen Symposium stellt der Hamburger Bahnhof unter dem Titel „Übersetzung. Text als Bild“ Arbeiten von fünf Gegenwartskünstlern aus. Das Kino Arsenal zeigt ein von Benjamin inspiriertes Filmprogramm. Und das Walter-Benjamin-Archiv präsentiert in der Akademie der Künste am Pariser Platz Teile seines Bestandes, dessen Sammlungsgeschichte kaum weniger dramatisch als das Leben Benjamins ist. Seit 2004 vereint das Archiv drei Teile des Benjamin-Nachlasses: die Manuskripte, die Benjamin 1940 bei seiner Flucht aus Paris mit sich geführt hatte und die nach seinem Tod an Adorno gegangen sind, außerdem die in der Pariser Bibliothèque Nationale vergrabenen Aufzeichnungen Benjamins und schließlich Manuskripte und Briefe, die nach Benjamins Flucht vor der Gestapo in seiner Pariser Wohnung beschlagnahmt wurden. Nach Kriegsende waren sie von der Roten Armee von Berlin nach Moskau verlagert worden und sind später an die Akademie der Künste der DDR gegangen.

Walter Benjamin war selbst ein passionierter Archivar seiner eigenen Texte sowie Sammler von FotograFien, von Kinderbüchern und anderen Fundstücken. Schön an der Archiv-Ausstellung ist, dass sie ein Porträt Benjamins aus seinem eigenen Archiv heraus versucht, das überzeugt, ohne Anspruch auf Vollständigkeit anzumelden. Schade ist, dass sie etwas Hermetisches, für den Uneingeweihten schwer Zugängliches hat. Das fängt bereits damit an, dass der Besucher die Ausstellungsräume nicht einfach betreten kann, sondern an der Kasse eine elektronische Karte erhält, die ihm über einen Abstieg in das Kellergeschoss der Akademie eine Glastür öffnet, hinter der ihn dann die Ausstellung erwartet. Grundstürzend neue Erkenntnisse über Benjamin werden hier nicht präsentiert. Doch dafür sind persönliche Stücke des Philosophen zu sehen, die zum Teil zum ersten Mal in der Öffentlichkeit präsentiert werden. Notizhefte und Beispiele von Benjamins Versuchen, mikroskopisch klein zu schreiben, Aufzeichnungen zu frühen Sätzen und Gedanken seines Sohnes Stefan, Sammlungen von Ansichtskarten, Fotografien von Pariser Passagen und bürgerlichen Interieurs sowie „Knackmandeln“, Benjamins geliebte Sprachrätsel und Denkaufgaben. Eine besonders schöne handelt von sechs Autoren, die sich im „Eisenbahnwagen erster Klasse“ gegenübersitzen und von denen jeder ein Buch eines der anderen liest.

Angesichts der Breite und Heterogenität seines Interessenfeldes ist die Klassifizierung des Autors, wie erwähnt, bis heute umstritten, auch wenn der Versuch ihn einzuordnen nicht mehr mit der früheren Schärfe diskutiert wird. Dem Fachgebiet nach befindet sich sein Werk ohnehin zwischen den Stühlen der Philosophie, der Literaturwissenschaft und -kritik sowie der Geschichtsschreibung. Hannah Arendt rechnete ihn zu den „unklassifizierbaren“ Denkern, die weder zu existierenden Genres gehören noch ein neues begründen.

Die Frage, ob seine Nähe zum Marxismus einerseits die zur Theologie und insbesondere jüdischer Mystik andererseits ausschließt, erscheint aus heutiger Perspektive am besten so zu beantworten, dass sie nicht einseitig entschieden werden kann. Das führte auch eine Sektion des Symposiums vor, die sich mit „Benjamins Kommunismus“ beschäftigte. Wolle man Benjamin nicht selektiv rezipieren, hieß es dort in einem Plattform-Papier, müsse man sich „mit seiner von 1924–1938 kenntlichen Option für die Sowjetunion und mit seiner dezidierten Kritik an deren Kulturpolitik auseinandersetzen“. Das Papier zitierte als Beleg aus einem Brief Benjamins an Max Rychner von 1931: „Hierarchien des Sinns hat meiner Erfahrung nach die abgegriffenste kommunistische Plattitüde mehr als der heutige bürgerliche Tiefsinn, der immer nur den einen der Apologetik besitzt.“

Das Zitat ist allerdings selbst selektiv. Direkt vorher in diesem Brief bezeichnet Benjamin die ihm einzig mögliche Art des Denkens, wenn auch mit Vorbehalt, als „theologisch“, und die Rede von den Hierarchien des Sinns wird von ihm explizit auf die „talmudische Lehre von den neunundvierzig Sinnstufen jeder Thorastelle“ bezogen. Wenn Benjamin aber selbst noch in einem Brief, dessen Absicht es in der Tat ist, seine Option für den Kommunismus zu erklären, solche theologisch-politischen Analogien zieht, kann das wohl nur eines bedeuten: Benjamins Marxismus blieb immer so eng mit seinen theologischen Interessen verbunden, dass das eine vom anderen gar nicht getrennt werden kann. Diese Durchdringung im Übrigen erklärt auch die Abwehrhaltung sowohl Adornos wie Scholems wie schließlich Brechts, wann immer sie mit Benjamins theologisch-politischen Hintergrundannahmen konfrontiert waren.

Es sind also eher die kleinen, aber entscheidenden Umorientierungen des Denkens, die Benjamin bis heute so wichtig machen. Sätze Benjamins wie, dass niemals ein Dokument der Kultur sei, „ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein“, nehmen eine Absage an die vermeintliche Unschuld der Hochkultur pointiert vorweg, die später Allgemeingut wurde. Oder Benjamins Plädoyer für einen anderen Geschichtsbegriff: „Die Tradition der Unterdrückten belehrt uns, dass der Ausnahmezustand, in dem wir leben, die Regel ist. Wir müssen zu einem Begriff der Geschichte kommen, der dem entspricht.“ Allein das Phänomen der sozialen Unterschichten belegt, wie nötig eine solche Umkehrung des Blicks bis heute wäre, und die Diskussion um sie zeigt, dass von einem solchen Perspektivenwechsel gar keine Rede sein kann. Lange ist kritisiert worden, dass Benjamin keine wirklichen Schüler gefunden hat, dass sein Werk nur als Steinbruch benutzt wurde. Heute liegt nahe, dass genau das der produktivste Umgang mit diesem schwierigen, häufig bewusst esoterischen und dann wieder blitzartig erhellenden Vordenker der Moderne ist.