„Das ist totes Denken“

Nach drei Jahrzehnten Massenarbeitslosigkeit sollten wir den Glauben an die Lohnarbeitsgesellschaft aufgeben, meint der Berliner Kulturphilosoph Wolfgang Engler. Die Gleichung Arbeit = Leben geht nicht mehr auf

taz: Herr Engler, haben Sie heute schon gearbeitet?

Wolfgang Engler: Noch nicht …

Es ist knapp vor Mittag!

Ich kann ganz gut auch nichts tun.

Wir leben in einer Welt des Arbeitsglaubens. Nur wer arbeitet, gehört dazu, wer nicht arbeitet, gehört nicht dazu.

In der Tat. Es gab eine Zeit, vom Ende des 19. Jahrhunderts bis in die 70er-Jahre des 20. Jahrhunderts, in der – in unseren Breiten jedenfalls – Arbeit für alle zugänglich war, die ihren Lebensunterhalt durch lohnförmige Arbeit begründen wollten. Das scheint im Rückblick eine Sondersituation.

Arbeit war über Jahrtausende etwas für die Unterschichten, schmutzig und beschwerlich. Befreiung von der Arbeit oder, wechselweise, Befreiung in der Arbeit waren die Themen der Sozialutopie. Wie ist das heute?

Es gibt heute eine Befreiung in der Arbeit in einem Ausmaß, das jemand wie Karl Marx sich nicht hätte träumen lassen. Es gibt mehr Selbstständigkeit, die Arbeitnehmer sind in Prozesse eingebunden, in denen sie selbstbestimmter arbeiten können. Die Anforderungen sind anspruchsvoller, breite Schichten können sich mit dem, was sie tun, identifizieren. Gleichzeitig wird die Arbeit rar. Es sind also zwei Prozesse, die parallel miteinander laufen. Es ist heute leichter, sich mit seiner Arbeitstätigkeit zu identifizieren, andererseits ist es zunehmend absurd, Leben und Arbeiten zu identifizieren.

Dass man seine Kreativität, Emotionen an seinen Arbeitsplatz investiert, ist das nur falsches Bewusstsein?

André Gorz hält die Transformation der Betriebsführungstechniken nur für Maskerade, zum Zwecke des besseren Gedeihens der jeweiligen kapitalistischen Fabrik. Ich glaube nicht, dass sich dieses Phänomen in solchen Deutungen erschöpft. Ich denke, dass hier ein bedeutender Wandel vor sich gegangen ist. Das Schöpferische ist, zumindest als Anspruch, majoritär geworden: dass man in der Arbeit bei sich sein und seine Fähigkeiten entwickeln soll.

Und da es fast niemandem vollständig gelingt, wächst mit den Spielräumen nicht die Zufriedenheit, sondern die Unzufriedenheit.

Das zeigt: Die Gleichung Arbeit = Leben kann nicht aufgehen.

Was verliert der Arbeitslose, neben seinem Einkommen?

Bisher ist es so: Nur wer arbeitet, ist eingebettet. Er hat den Austausch mit seinen Kollegen, die Arbeit liefert uns den Ansporn, unsere Fertigkeiten zu entwickeln. Wer Arbeit verliert, der verliert auch seinen Weltbezug.

Wie können die Konsequenzen der Nichtarbeit erträglich gestaltet werden?

Das ist ein Minimalanspruch, der in etwa die im Auge haben müssen, die ihr Leben lang Lohnarbeit verrichtet haben und die dann ihre Arbeit verlieren. Denen gegenüber wäre es ein wenig schamlos zu sagen, sie sollten ihre Lage als Chance empfinden, freie Tätigkeiten und Motivationen herauszubilden. Diejenigen muss man, das ist das Minimum, anständig behandeln, und dafür schlage ich – wie viele andere – das von Arbeit unabhängige Grundeinkommen vor.

Und dann? Wie bestimmt sich die Identität von Menschen, wenn sie nicht mehr über den Beruf definiert wird?

Das ist das mit Abstand Schwierigste – Verhältnisse zu schaffen, aus denen die Menschen Befriedigung, gesellschaftliche Einbettung ziehen, jenseits der Arbeitsstelle. Aber es ist auch ziemlich klar, dass es nicht so weitergehen kann: dass Millionen Menschen ohne Perspektive leben, vom Arbeitsamt auch noch schikaniert werden und gesellschaftlich vermittelt bekommen, überflüssige Parasiten zu sein.

Wo sollen Lösungen entstehen: aufseiten der Opfer, indem sie rebellieren, oder der politischen Eliten, indem sie endlich politische Fantasie entwickeln?

Das richtet sich zunächst an die politische Ebene: an die Politiker, an die Schulen, an die Familien, dass sie den Menschen Wege zeigen sollen, die aus dem Netz herausführen. Dass, wenn die Arbeit von ihnen abfällt, nicht jede Tätigkeit aufhört. Ohne Arbeit zu sein heißt nicht, passiv zu sein. Wir sind von Bildern vom Menschen geprägt, die die Arbeit fast vergöttern. Das sind mächtige Bilder, aber es gab auch andere. Es gibt, von der griechischen Antike über die Römische Republik bis zur Klosterkultur durchaus Bilder, die einen Kontrast liefern, aber verschüttet sind.

Die Maßgaben der Lohnarbeitsgesellschaft sind längst obsolet, wir denken nur falsch, so Ihre These. Haben wir nur ein Ideologieproblem?

Diese Kritik höre ich oft. In ihr kommt meist der Schulterschluss der Verteidiger der Lohnarbeitsgesellschaft zum Ausdruck – von links bis rechts, vom Unternehmerverband bis zu den Gewerkschaften.

Deswegen muss sie nicht falsch sein …

Diese Kritik verteidigt einen Anachronismus. Die PDS hat bei den letzten Bundestagswahlen „Arbeit soll das Land regieren“ plakatiert. Das ist doch ein totes Denken. Nach dreieinhalb Jahrzehnten Massenarbeitslosigkeit in der Bundesrepublik, die man mit allen Konzepten – nachfrageorientiert, angebotsorientiert – ohne nennenswerte Fortschritte bekämpft hat, propagiert man immer noch die Illusion, man könnte alle in Arbeit bringen. Man wiederholt unablässig Versprechen, die man nicht halten kann. Das ist schwer fahrlässig.

INTERVIEW: ROBERT MISIK