Beim vielen Ballern den Kopf verloren

Jungs verdaddeln viel mehr Zeit für Videospiele als Mädchen. Der Kriminologe Christian Pfeiffer meint: ein Grund, warum Jungen schlechter lernen

Andreas’ Reaktionen sind mit Counterstrike schneller geworden. Aber er ist in die Realschule abgerutscht

VON ANNEGRET NILL

Sie nennen sich Silberfisch, Holyvirgin oder Andwari. Ihr Treffpunkt: das Netz. Ihre Welt: World of Warcraft. Es gibt Krieger, Heiler und Magier. Sie sammeln sich in Gilden und kämpfen gegen Horden. Das gibt Ehrenpunkte und formt den Charakter. Ohne Charakterbildung kein Aufstieg in das nächste Level. Und da locken Überfälle auf fremde Dörfer und intensive Schlachten. Viele, viele Ehrenpunkte. Anerkennung. Ihre Welt ist strikt hierarchisch. Man muss sich Aufstieg und Verehrung erarbeiten. Jedes Level führt näher zum Ziel.

Immer mehr Jugendliche versenken sich in die virtuelle Welt der Computerspiele. Eine neue Studie des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen (KFN) möchte nun beweisen, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen dem zunehmenden Computerspielkonsum und den immer schlechter werdenden Noten von Jungs. Denn seit bald fünfzehn Jahren stürzen die Leistungen von vielen Jungen in der Schule immer weiter ab. Mittlerweile stellen sie zwei Drittel aller Schulabbrecher, drei Viertel aller Sonderschüler – aber weniger als 44 Prozent der Abiturienten. Tendenz sinkend. Warum? Die Gründe sind vielfältig. Häufig genannt werden die fortschreitende Feminisierung des Lehrberufs, fehlende positive männliche Rollenvorbilder an den Schulen, ein Mangel an spannender Lektüre für Jungs. Auch Macho-Männlichkeitsbilder behindern die Schüler beim Lernen: viele erkennen die Autorität der Lehrerinnen nicht an.

Das KFN hat 6.000 Viertklässler und 17.000 Neuntklässler befragt, wie sie Medien nutzen. Das Ergebnis: Im Vergleich mit Mädchen sehen Jungs häufiger fern, verbringen mehr Zeit vorm Computer und spielen häufiger und länger Computerspiele – im Durchschnitt liegen sie fast eine Stunde vor den Mädchen. Sehr viel mehr Jungen als Mädchen besitzen eigene Mediengeräte. Wenn es um Spielkonsolen geht, ist der Anteil bei den Jungen sogar mehr als doppelt so hoch (38 Prozent Jungen gegenüber 15 Prozent Mädchen). Und wer eigene Medien besitzt, nutzt sie auch häufiger – und ist schlechter in der Schule. Dies betrifft vor allem Jungen aus bildungsfernen Elternhäusern: Sie besitzen überproportional viele eigene Geräte und sitzen am häufigsten davor.

Ein weiterer Faktor: Gewalt in Computerspielen. In der Studie waren jene Kinder, die früh und viel Gewaltcomputerspiele spielen – das sind neunmal so viel Jungen wie Mädchen – besonders schlecht in der Schule. Christian Pfeiffer, Leiter des KFN, erklärt das mit der starken emotionalen Wirkung, die Gewaltcomputerspiele auf Kinder haben. Aber ist die emotionale Beteiligung bei Gewalt in Computerspielen wirklich höher als bei anderen Computerspielen? Vielleicht liegt es eher an einer Mischung von sozialer Vernachlässigung und Macho-Männlichkeitsbild – und daran, dass Jungen, die in ihren schulischen Leistungen schlecht sind, sich über Gewaltspiele Respekt verschaffen?

Klaus Mathiak, Professor für Experimentelle Verhaltenspsychobiologie in der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der RWTH Aachen, erklärt, dass es zwar direkte soziale Auswirkungen von Gewalt-Computerspielen gebe, diese aber relativ klein zu sein scheinen. In Verbindung mit vielen anderen Faktoren wie Vernachlässigung im Elternhaus oder Perspektivlosigkeit jedoch könne der Konsum zu einem höheren Aggressionspotenzial führen. „Gewalt in Computerspielen führt dazu, dass die affektiven Areale im Gehirn deaktiviert werden – das bedeutet, unter anderem könnten Furcht und Empathie unterdrückt werden“, meint der Neurowissenschaftler, der selbst schon Untersuchungen zum Thema durchgeführt hat. Dass der Gewaltinhalt zu einer stärkeren emotionalen Beteiligung führt, könne er aufgrund der Untersuchungsergebnisse aber nicht bestätigen.

Die hinter Wesen wie Silberfisch und Holyvirgin verborgenen Jugendlichen sind laut KFN-Studie meist Jungs. Sie jonglieren zwischen den Welten: der Schulwelt, die viele immer langweiliger finden, und der Computerspielwelt, die sie magisch anzieht. Andreas Herrmann (Name geändert) ist einer dieser Jungs. Der Fünfzehnjährige spielt Counterstrike und World of Warcraft. Counterstrike ist ein Ego-Shooter. Das sind Gewaltcomputerspiele, in denen es darum geht, möglichst viele Gegner zu töten. Bei Counterstrike spielt man in Teams: fünf gegen fünf. Für dieses Spiel verabredet Andreas mit seinen Teammitspielern eine Zeit, zu der sich alle einloggen. Dann suchen sie via Chatroom nach einer Gruppe, gegen die sie spielen können. Andreas gefällt an Counterstrike das Taktieren und der Teamgeist: „Um die Gewalt geht es doch nicht. Ob das, was da spritzt, Blut ist, ob es rot, blau oder grün ist, sieht man doch meist gar nicht, weil es viel zu weit weg ist. Es ist halt einfach das Signal, dass ich getroffen hab.“

Der Kinder- und Jugendpsychologe Wolfgang Bergmann erklärt die Faszination von Computerspielen damit, dass sie der Welt, in der Jugendliche heute aufwachsen, entsprechen. Die Hektik, der Leistungsdruck, die Forderung nach örtlicher Ungebundenheit und Mobilität spiegeln sich in den Spielen wider: überall und jederzeit. Die Jugendlichen haben Mitspieler überall auf der Welt. Wenn sie ein eigenes Gerät besitzen, können sie sich jederzeit einloggen – denn es sind immer andere Spieler online. Dazu kommt die Allmacht, die ihr virtuelles Alter Ego besitzt: Im Kampf erlittene Wunden können in Sekundenschnelle geheilt werden. Sie können von den Toten auferstehen und sich andere magische Fähigkeiten aneignen. Je machtloser Jugendliche sich in der Alltagswelt fühlen, desto stärker zieht sie eine solche Omnipotenz an: Sie finden dort die Bestätigung, die ihnen der Alltag verwehrt.

Dies erklärt laut Bergmann auch, weshalb viele Jungen nicht mehr lesen wollen: „Bücher und Schrift spiegeln die Welt, in der die Jugendlichen heute aufwachsen, nicht mehr wider.“ Sie seien zu starr und zu festgelegt. „Deshalb ödet das Lesen sie an“, meint Bergmann.

Andreas’ Reaktionen sind schneller geworden, seit er Counterstrike spielt. Er übt sich in Taktik und Treffsicherheit und liebt es, mit anderen zusammen zu spielen. Dafür hat er mittlerweile ein anderes Problem: Die Spiele haben ihn so in ihren Sog gezogen, dass er vom Gymnasium auf die Realschule wechseln musste. Seine Eltern haben nun einen Plan mit ihm entworfen, der zu einer allmählichen Reduktion der Spielzeiten führen soll. Damit er nach der Mittleren Reife zurück aufs Gymnasium kann.

Bergmann bestätigt, dass Computerspiele wie Counterstrike strategische Fähigkeiten schärfen und Reaktionen beschleunigen können. Viele Kinder übten beim Computerspielen Fähigkeiten ein, die die Schule ihnen nicht vermittle, die sie aber später bräuchten. So gesehen eine gute Nachricht, dass die Mädchen bei Computerzeiten aufholen, wie der Fachbuchautor betont. Es kommt allerdings auf Maß und Inhalt an. Daher fordert Bergmann Eltern auf, sich genau anzuschauen, was der Nachwuchs da spielt. Und wie lang.

Bergmann wie Pfeiffer plädieren für eine Reform der Schule. Der Leiter des KFN bevorzugt ein Ganztagsschulmodell, in dem alle Kinder nachmittags in Interessengruppen lernen und Medienpädagogik als Fach integriert wird. Die Forderungen von Bergmann sind tiefgreifender: „Die heutige Form der Schule stammt aus einem anderen Jahrhundert. Gelehrtes und Erlebtes passen vorne und hinten nicht mehr zusammen.“ Er möchte den Frontalunterricht abschaffen und die Lerninhalte an die Erlebniswelt der Kinder anpassen.

Die Realitätseinübung im Spiel hat schon begonnen. Holyvirgin und Silberfisch warten im Netz auf weitere Mitstreiter. Ihre Gilde heißt Sanctus Veritas, heilige Wahrheit. Bewerbungen übers Netz werden erbeten. Angaben über Alter, Klasse und Level müssen schon sein. Wer mitmachen darf? Nur die Besten natürlich!