Alpen sind schön und stehen im Weg

Im Kunsthaus Zürich versucht eine breit angelegte Ausstellung die Überwindung des Identifikationsmassivs

1980 hielt der Punk auch im beschaulichen Zürich Einzug. Mit der Parole „Nieder mit den Alpen. Freie Sicht aufs Mittelmeer!“ rüttelte die aufgebrachte Jugendbewegung am zentralen Identifikationsmassiv der Eidgenossen – den Bergen. Dabei forderte sie gar keine Planierung der Schweiz in ein Flachlandtirol, sondern nur mehr Geld für die Kultur. Schließlich sind die Auffaltungen zwischen eurasischer und afrikanischer Platte ein geografisches Phänomen ebenso wie ein wirtschaftliches und kulturelles. Die Ausstellung „In den Alpen“ im Kunsthaus Zürich widmet sich nun verschiedenen Aspekten der Bergwelt aus künstlerischer Sicht.

Der mittlerweile legendäre Slogan trifft den Punkt: Die Alpen stehen buchstäblich im Weg. Und so ist die Geschichte der Alpen auch die Geschichte ihrer Überwindung. Pässe wurden über die Berge geschlagen, um mit schwer erreichbaren Nachbartälern Handel zu treiben; Tunnel durchbohren sie, um einen ungehinderten Transport von Gütern und Menschen zu ermöglichen. Die Gipfel wurden ästhetisiert, um ihre physische Dominanz überhaupt zu ertragen. Sportarten wurden entwickelt, um sich die steilen Hänge und die vereisten Gletscher untertan zu machen. Die Alpen wurden kartografiert, fotografiert und abgefilmt, um sie in ein fassbares Bild zu verwandeln. Die Kuratoren Tobia Bezzola und Catherine Hug unterziehen die Zwangskulturation der Alpen einer multimedialen Untersuchung. Mehr als vierhundert Exponate vom 17. Jahrhundert bis heute haben sie gesammelt und lassen sie in einer mehr assoziativen als stringent gegliederten Ausstellung aufeinander los.

Einzig zehn Schlagworte wie Panorama, Katastrophe oder Touristen bringen ein wenig Ordnung in das anspielungsreiche Chaos aus Gemälden, Fotografien, Gebrauchsgrafik, Volkskunst, Film, Zeichnungen und Skulpturen. Man betritt die Alpen als Idee einer erhabenen Wüste, wie sie auf den Pariser Salons des vorletzten Fin de Siècle gefeiert wurde. Maler wie der Abbé Laurent Guétal oder Charles Bertier präsentierten die hochalpinen Regionen als sublime Wunderlandschaften aus Stein und Eis. In ihrem zugespitzten Naturalismus und exaltierten Pathos wirken sie wie überirdische Bühnen, auf denen Menschen nichts verloren haben. Keine Spur mehr von dem spätromantischen Heroismus eines Rudolf Koller. Dessen „Gotthardpost“ von 1873 ist eines der populärsten Bilder der schweizerischen Malerei. Das Gemälde zeigt eine von fünf ungestüm galoppierenden Pferden gezogene Postkutsche, die über den Gebirgspass rast. Es schwelgt im Stolz über die Ingenieursleistungen des 19. Jahrhunderts und verschweigt geflissentlich die Gefahren einer solchen Reise.

HR Giger entwirft in dem illustrierten Roman „The Mystery of San Gottardo“ von 1998 eine ganz andere Vision. Biomechanoide Zwitterwesen aus Armen und Beinen entfliehen aus geheimen Militäranlagen und finden sich plötzlich in einer Mischwelt aus helvetischer Mythologie und ungewisser Zukunft wieder. Monica Bonvicini und Jan Ralske haben sich in der kafkaesken Atmosphäre einer solchen unterirdischen Kaserne umgesehen. Sie richten in dem Video „Staub“ von 2002 einen ironischen Blick auf die Allgegenwart der Armee und ihre verborgenen Ausbildungsorte in den Bergen.

Anthropologische Gesichtspunkte haben in der Ausstellung einen hohen Stellenwert. Emil Brunners Porträtfotos von Kindern aus dem Bündner Oberland erinnern an die Dokumentationen von Walker Evans über die Landbevölkerung in Alabama. Mehr als 1.800 Bergkinder fotografierte Brunner Anfang der Vierzigerjahre, als streng serielle Antireportage. Jean-Luc Godard unterzog in seinem ersten Film, „Opération béton“ von 1954, das Verhältnis von Menschenkraft und Maschinenkraft beim Bau eines Staudamms einer Strukturanalyse. Lois Hechenblaikner fokussiert in der Dia-Multivision „Zeitgeister“ auf die Verwüstungspotenziale der Tourismusindustrie. Tobias Madörin fotografierte Sonntagsmaler beim Verwandeln der kolossalen Kulisse in handlichen Kitsch.

Die „ultimative Alpen-Ausstellung“, wie sie Museumsdirektor Christoph Becker vollmundig ankündigte, ist dem Kunsthaus Zürich nicht gelungen. Wie auch? Es wäre nur ein weiterer Versuch gewesen, das Phänomen Alpen konzeptuell zu überwinden. Der frei sammelnde Blick auf die Berge über alle Medien- und Disziplingrenzen hinweg ist da der interessantere Ansatz. Allerdings hätte man sich eine größere Fernsicht gewünscht, denn die Alpen finden nicht nur in der Schweiz statt. MARCUS WOELLER

Bis zum 2. Januar 2007, Katalog 39 sFr.