Elegante Nachtflüge

Vater, Mutter und Quietschstimme sind Vergangenheit: Charlotte Gainsbourg hat das Album „5:55“ auf den Markt gebracht

VON REINHARD KRAUSE

Als die französische Schauspielerin Sandrine Kiberlain vor einem Jahr ein Chanson-Album herausbrachte, nannte sie es vorauseilend gleich „Manquait plus que ça“, was man mit „Das fehlte grad noch“ übersetzen kann oder noch besser mit „Die fehlte grad noch“. Bei ihrer Kollegin Charlotte Gainsbourg käme kein Mensch auf den Gedanken aufzustöhnen, warum die denn nun auch noch mit dem Singen anfangen muss. Immerhin ist sie die Tochter von Serge Gainsbourg, und der ist Frankreichs Säulenheiliger des Chanson – zumindest seit er tot ist.

Als Schauspielerin hat sich Charlotte Gainsbourg seit frühester Jugend einen tadellosen Ruf erspielt. Von „Das freche Mädchen“ (1985) bis hin zum jüngst angelaufenen „Science of Sleep“ steht ihr Name für hochwertige Unterhaltung mit Tiefgang und für schlaksige Eleganz. Ihr Film „Meine Frau, die Schauspielerin“ wurde mit dem Spruch beworben: „Alle lieben sie. Das ist ja das Problem.“

An fehlender Zuneigung seitens der Musikwelt lag es tatsächlich nicht, dass Charlotte Gainsbourg erst heute, mit 35, zum Gesang gefunden hat. Das Problem dürfte viel eher gewesen sein, dass sie bereits vor zwanzig Jahren ein Album eingespielt hatte unter Federführung des Herrn Papa. „Charlotte for ever“ war dessen Hymne auf die eigene Tochter; vorausgegangen war 1984 ein Skandalduett namens „Lemon Incest“, auf der der alte Provokateur die in seinem Oeuvre so ziemlich letzte noch fehlende Sexvariante, nämlich den Inzest, zumindest angedeutet hatte.

Schnee von vorgestern, gewiss, aber Schnee mit Langzeitwirkung. Vater Gainsbourg nämlich hatte, wie die Tochter es aus der Rückschau nennt, bei den Aufnahmen liebevoll all ihre kleinen „Unfälle“ beim Singen auf Platte pressen lassen, mit der Folge, dass Charlotte nun quasi wirklich forever mit einer total verquietschten und immer mal wieder entgleitenden Singstimme assoziiert wurde. Ein Juwel für Kinderliebhaber. Kein Wunder, dass die Tochter jahrelang keine Lust verspürte, noch einmal ein Tonstudio von innen zu sehen.

Erst nachdem sie sich vor zwei Jahren von Etienne Daho zu einem Duett hat überreden lassen, scheint Charlotte Gainsbourgs Vertrauen in ihre gesanglichen Fähigkeiten wieder gewachsen zu sein. Als Nicolas Godin und Jean-Benoît Dunckel von Air ihr ein Albumprojekt antrugen, sagte sie schließlich zu. „5:55“ ist insofern tatsächlich ihr Debüt – als reife Sängerin. Obwohl: Anders als die Kolleginnen Kiberlain oder auch Isabelle Huppert, die auf fast altmodische Art jeden Ton aussingen, verlegt sich Charlotte Gainsbourg mehr aufs Andeuten, eine Art Sprechgesang. So vermeidet sie neue „Unfälle“.

Die Songs auf „5:55“ sind nachtschwarz und schwebend zugleich geraten. Jeder einzelne Titel klingt vielversprechend und hochelegant. Trotzdem stellt sich à la longue das Gefühl ein: Ist das nicht alles ein wenig dünn? Was nicht einmal an Gainsbourgs Stimme liegt, sondern durchaus an den Arrangements von Air. An wen erinnert das bloß? Es muss eine sehr ferne Erinnerung sein. Genau: an Klaatu, diese Phantomband, die Mitte der Siebzigerjahre auftauchte und alles dafür tat, dass die Fachpresse munkelte, es handele sich um ein Geheimprojekt der wiedervereinigten Beatles. War natürlich alles bloß Fake, und bestimmt hätten sich die Beatles auch für solch einen weichen Sound geniert. Übrigens hieß das erste Klaatu-Album „3:47 EST“. Zufall? Womöglich haben Air in ihrer Kindheit zu viel von diesen sphärischen Wabersounds gehört. Wenn sie wenigstens auf die ewig perlende Pianobegleitung verzichtet hätten!

Für die Texte zeichnen Jarvis Cocker von Pulp und Neil Hannon von Divine Comedy verantwortlich. Da ist viel von Tagträumereien und nächtlichen Flügen die Rede. Charlotte Gainsbourg hat von Anfang an Wert darauf gelegt, auf Englisch zu singen – und sich alle Schlüpfrigkeiten verbeten. Ihrer Stimme, hat sie selbst erkannt, hört man die textlichen Untertöne auf „5:55“ nicht unbedingt an. Tatsächlich fragt man sich nach wiederholtem Hören: Sind da welche?

Seltsamerweise wurde Charlotte Gainsbourg in Interviews zu ihrem Album vor allem nach dem Erwartungsdruck gefragt, der sich aus dem berühmten Nachnamen ergab. Dabei wäre der Vergleich mit ihrer Mutter viel erhellender. Jane Birkin hat eindrucksvoll vorgemacht, wie man sich als Schauspielerin zur unverwechselbaren Sängerin entwickelt. Auch mit begrenztem stimmlichem Material und mit beherztem Mut zum Unfall. Nicht leicht, das Kind dieser Verbindung zu sein, auch wenn alle einen lieben.

Charlotte Gainsbourg: „5:55“ (Warner)