Machtkampf um 48 Millionen Euro

Peter Sellars gegen das Revier: Wer wird in Essen die künstlerische Leitung der Kulturhauptstadt übernehmen?

Ein reines Festival reicht nicht aus, um eine neue Identität durch Kulturzu schaffen

Eine richtige Kulturhauptstadt zu werden, das ließ sich gut organisieren. Das Ruhrgebiet ist 2010 neben dem ungarischen Pécs eine der beiden Kulturhauptstädte Europas. Mit Essen als offizieller Vertreterstadt. Am 14. November wird die begehrte Urkunde von der Europäischen Union übergeben. Bis dahin soll auch eine Betreibergesellschaft für die Revierkultur gegründet sein. Doch bereits jetzt streiten sich die Kommunen mit dem Land NRW um die Führungsrolle in der „Ruhr 2010 GmbH“. Die schwarz-gelbe Regierung will das medienträchtige Label Kulturhauptstadt Europa nutzen, denn 2010 finden hier auch Landtagswahlen statt. Da macht es sich für CDU-Ministerpräsident Jürgen Rüttgers gut, im Fernsehen ab und zu neben einem US-amerikanischen Theaterstar zu stehen: Peter Sellars wurde also auserkoren, und der ist willig.

Das stößt in der Region aber auf heftigen Widerstand. Dabei geht es nicht nur um die Person Sellars, sondern auch um den Verlust von Einfluss. Kulturpolitiker und Künstler befürchten gleichermaßen, dass die gemeinsame Anstrengung verpuffen könnte, den Strukturwandel im Ruhrgebiet kulturell zu befördern und die Region mit ihren postindustriellen Brachen weiterzuentwickeln. Ein schnelles Abfackeln des 48-Millionen-Budgets für spektakuläre Events will deshalb niemand.

Nun muss der Essener Kulturdezernent Oliver Scheytt über die zu vergebende künstlerische Leitung „einen Konsens unter den vier Gesellschaftern der GmbH herstellen“. Jeweils 25 Prozent halten das Land NRW und der Initiativkreis Ruhrgebiet, in dem die führenden Wirtschaftsunternehmen der Region vertreten sind. Die andere Hälfte teilen sich die Stadt Essen (17 Prozent) und der Regionalverband Ruhr (RVR), der immer noch sozialdemokratisch dominierte Verbund aller Ruhrkommunen. Zusammen wäre das eine richtige Sperrmajorität – gute Chancen also, den Millionen-Euro-Machtkampf mit der NRW-Landesregierung für sich zu entscheiden.

Die Region setzt auf eine mehrköpfige künstlerische Leitungscrew unter dem designierten GmbH-Geschäftsführer Scheytt, der dann auch Kulturhauptstadt-Gesamtleiter würde. „Diese Kuratoriumsstruktur aus den eigenen Reihen hat sich bei der Bewerbung um den lukrativen EU-Titel bewährt“, sagt Scheytt. Zumindest im Ruhrgebiet ist man einig: Die Kulturdezernenten der Großkommunen Bochum und Dortmund lehnen die Intendanz für Peter Sellars ebenfalls ab. „Wir haben mit den Kultureinrichtungen im Revier den Titel errungen. Nun sollen die auch das Programm konzipieren“, so Hans-Georg Küppers als Bochums Vertreter. Ohnehin reicht für Dortmunds Kulturdezernent Jörg Stüdemann ein reines Festival nicht aus, um für das Ruhrgebiet eine neue Identität als Kulturmetropole zu schaffen – egal welcher Intendant nun ernannt würde.

Neben dem US-amerikanischen Theatermacher Sellars stehen wohl Marie Zimmermann als Theaterchefin der Wiener Festwochen und zukünftige Intendantin der dritten, 2007 beginnenden RuhrTriennale, sowie Bert van Meggelen, der 2001 Kulturhauptstadt-Intendant in Rotterdam war, auf der letzten Kandidatenliste. Noch herrscht eher nervöses Schweigen: Die NRW-Landesregierung und die anderen Gesellschafter beziehen zu keinem Kandidaten Stellung. Allerdings arbeitet Sellars zurzeit mit Zimmermann bereits gemeinsam bei den Wiener Festwochen, und Jürgen Flimm, Intendant der aktuellen RuhrTriennale, ist seit Oktober auch Chef der Salzburger Festspiele. Er hat seine Nachfolgerin Zimmermann im Ruhrgebiet schon protegiert – vielleicht kommt man ja 2010 wieder zusammen, mit der einen oder anderen teuren Produktion. Böse Zungen behaupten deshalb, die kulturelle Zukunft des Ruhrgebiets werde gerade von Österreich aus organisiert.

Vielleicht wird aber auch die Bundesregierung von Berlin aus im Konflikt mitreden: Jürgen Fischer, Leiter des Kulturhauptstadtbüros beim RVR, erwartet immerhin von Kultur-Staatsminister Bernd Neumann ein Neun-Millionen-Euro-Engagement. Dann würde der Bund auch noch Gesellschafter in der neuen Betreibergesellschaft – wie schon 1999 im Fall von Weimar als Kulturhauptstadt. An die positive Wirkung einer Lichtgestalt als Intendant glaubt Fischer indes nicht, schon weil man für den Kulturwandel-Slogan „von der EU ein Mandat für die Region bekommen“ habe. Dazu gehört aber die Vielgestaltigkeit der Kulturszene vor Ort. Schließlich hat nur das Paket, bei dem eine ganze Region auch als Einheit zusammenarbeitet, die Jury überzeugt. PETER ORTMANN