Republik Rabenland. Ansicht einer argen Kinderstube

Zwei Kinder sterben laut Unicef pro Woche in Deutschland an MisshandlungenDas Misstrauen gegen staatliche Kontrolle und Bevormundung ist bei uns besonders groß

VON DANIEL SCHULZ
UND COSIMA SCHMITT

Dennis aus Cottbus, Jessica aus Hamburg und nun Kevin aus Bremen. Jeder dieser Namen steht für das Schicksal eines Kindes, das starb, weil die Eltern es misshandelten und vernachlässigten, es verhungern ließen oder schwerkrank zu Hause einsperrten. Brauchen wir mehr Kontrolle? Müssen wir Kinder früher aus problematischen Familien herausnehmen? Das fragen sich danach jedes Mal wieder Politiker wie Experten. Vergessen wird dabei rasch, dass es auch andere Namen gibt: Etwa Nicole und Corinna aus Osnabrück oder die sieben Kinder der Familie Haase aus Nordwalde bei Münster. Deren Eltern wurden die Söhne und Töchter weggenommen, weil Vater und Mutter angeblich zu dumm oder zu lieblos waren, sie großzuziehen. Als der Europäische Gerichtshof die Kinder in diesen Fällen wieder zurückbeorderte, musste sich das Jugendamt öffentlich Kritik an hören, es entscheide nur nach dem Motto: „Im Zweifel gegen die leiblichen Eltern“. Elternrecht oder Kindeswohl – zwischen diesen Polen bewegt sich die Diskussion über den Umgang mit Kindern in Deutschland. Mehr Staat oder mehr Eigenverantwortung? Diese Frage muss gestellt werden, wenn es tragfähige Antworten auf die Frage geben soll, welche die Fälle Kevin und Nicole an die Gesellschaft stellen.

Doch wie sollen wir die beantworten, wenn wir selbst über die Vernachlässigung und Misshandlungen nicht allzu viel wissen? Wir wissen nicht einmal viel über Kinder. Die umfassende Studie über das, was Drei- bis Zehnjährige über die Welt denken, welche Träume und Wünsche sie haben, wurde eben erst von der Hilfsorganisation World Vision in Auftrag gegeben. Über Misshandlungen und Vernachlässigungen gibt es nur eine Reihe vereinzelter Untersuchungen (siehe Kasten). Zwei Kinder sterben pro Woche in Deutschland an Misshandlungen, hat die Unicef herausgefunden. Doch was ist mit der großen Zahl an nicht tödlichen oder nicht sichtbaren Misshandlungen? Wie sieht es mit Vernachlässigungen aus? Hier können Experten nur mit Hilfe der Kriminalstatistik schätzen: Etwa ein Prozent der jährlich geborenen Kinder sind von Verwahrlosung bedroht, glauben sie. Das wären in der Altersgruppe der bis zu Zehnjährigen etwa 80.000 Kinder.

Bei der Berliner Polizei vergleicht man das Dunkelfeld verschiedener Straftaten und zieht daraus Rückschlüsse. „Bei Sexualdelikten gegen Kinder liegt das Verhältnis von einem aufgeklärtem Fall zu einem nicht polizeibekannten in einer Spannbreite von eins zu sechs bis eins zu zwanzig“, sagt Michael Havemann, Leiter des Dezernats 12, das auch für Kindesmisshandlungen zuständig ist. „Und weil die Hemmschwelle für Vernachlässigung und Misshandlung wohl höher ist als bei sexuellem Missbrauch liegt die Dunkelziffer wahrscheinlich eher am oberen Ende dieses Spektrums.“ 2005 ermittelte die Berliner Polizei in 314 Fällen wegen Vernachlässigung und in 472 wegen Misshandlung. Diese Zahlen müsste man wohl mit zwanzig multiplizieren um sich eine Vorstellung vom Ausmaß des Leidens von Kindern zu machen.

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Die Berliner Polizei ist bundesweit die einzige, die ein eigenes Kommissariat zur Bekämpfung von Kindesmisshandlung und -vernachlässigung unterhält. Die Beamten wissen genau, wie verharmlosend diese beiden Begriffe eigentlich sind. „Viele stellen sich unter Misshandlungen einfach nur ein paar blaue Flecke vor“, sagt Havemann und blättert Bilder aus Ermittlungsakten auf den Tisch: ausgehungerte Säuglinge, dunkle Striemen von Kleiderbügeln, Glutnarben von Zigaretten, Knochenbrüche, Verbrühungen durch heißes Wasser, Flecken, die von heißen Bügeleisen stammen. Und er erzählt von Kindern, die geschüttelt werden, wenn sie zu viel schreien. Dabei reißen leicht die Brückenvenen, die zwischen Gehirn und Hirnhaut verlaufen. An den Blutungen kann ein Kleinkind durchaus sterben. Häufiger jedoch sind Spätfolgen – schwerste Behinderungen beispielsweise. Dann zitiert Havemann Aussagen von Eltern: „Ich habe dieses Kind in die Welt gesetzt, ich kann damit machen, was ich will“, sagen sie. Oder: „Mir tat die Hand vom Schlagen so weh, da musste ich einen Bügel nehmen.“

Es sind nicht einmal solche schlimmen Fotos, mit denen Havemanns Dezernat 2004 eine Plakataktion gestaltete. Nur eine Babyflasche vor einem Grab zeigt eines der Bilder. Außerdem schaltete die Polizei eine Hotline, bei der Menschen anrufen sollten, die beobachten, dass Eltern ihre Kinder misshandeln oder sich nicht genug, um sie kümmern. Intern hatte es darum zuvor harte Diskussionen gegeben, die Beamten fürchteten von einer Welle von Denunziationen überrollt zu werden. Doch sie blieb aus. Aber die Zahl der Fälle, in denen die Polizei ermittelte stieg von 2004 auf 2005 um ein Fünftel auf insgesamt 786. Dieser bundesweite Höchstwert brachte Berlin in den Zeitungsspalten das Prädikat „Hauptstadt der Kindesmisshandlungen“ ein. In Hamburg, nur etwa halb so groß, wurden 2005 insgesamt nur 44 Misshandlungen und Vernachlässigungen bekannt.

Die meisten Fälle, sind sich fast alle Experten einig, geschehen in armen Familien. „Vernachlässigung und Misshandlung sind fast ausschließlich ein Phänomen der Unterschicht“, sagen unisono der Kriminologe Christian Pfeiffer und der Soziologe Klaus Hurrelmann (siehe Interview). LKA-Chef Havemann hat da andere Erfahrungen. Bei Misshandlungen, sagt er, stammen die Täter aus einem „breiten gesellschaftlichen Spektrum“. Der Unterschied sei nur: Grausamkeiten gegen Kinder in Mittel- und Oberschicht äußere sich weniger häufig in körperlicher Gewalt: „Wenn eine Mutter den Hamster der Tochter im Klo runterspült, dann ist das eine seelische Misshandlung, aber dem Kind sieht man nichts an.“ Auch was Migrantenfamilien betrifft, sprechen die Zahlen der Berliner Polizei eine andere Sprache als die der Forscher. Die meinen, dass dort die Eltern öfter zuschlagen, die Beamten stellen bisher „keine diesbezüglichen Auffälligkeiten“ fest. Den logisch scheinenden Befund, dass Drogensucht der Eltern ein erhöhtes Misshandlungsrisiko für Kinder sei, stellt eine noch nicht veröffentlichte Studie aus Leipzig ebenfalls in Frage. „Es besteht noch viel Forschungsbedarf“, sagt Heinz Hilger, Präsident des Kinderschutzbundes. Er wehrt sich aber dagegen, eine „Ablenkungsdebatte“ über Wohlstandsvernachlässigung zu führen. „Zu 90 Prozent sind Misshandlung und Vernachlässigung ein Problem armer Familien.“ Wo es Armut gebe, sei nun einmal weniger zu verteilen. Zudem hätten Eltern kaum Möglichkeiten, sich von der Kindererziehung zu entlasten, weil der Babysitter oder ein Kindermädchen zu teuer sind.

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Geldsorgen hat aber auch die Jugendhilfe. „Viele Fälle von schlimmster Vernachlässigung hat es in den letzte Monaten auch deshalb gegeben, weil die Kommunen so viel gespart haben“, sagt die grüne Familienexpertin Ekin Deligöz. Und tatsächlich: Flossen in Berlin 2002 noch 451 Millionen in die Jugendhilfe, werden es im nächsten Jahr nur 290 Millionen sein. Die meisten deutschen Kommunen haben wenige Einnahmen, viele sind pleite und suchen deshalb allseits nach Möglichkeiten zum Sparen. Sie kürzen auch beim Geld für Kinder und Jugendliche. Ein Platz in einem Kinderheim kostet durchschnittlich 3.000 bis 4.000 Euro im Monat. In Bremen gab der Senat daher im August diesen Jahres die Anweisung, „die Zahl der Fremdplatzierungen auf keinen Fall zu steigern.“ Vielleicht hätte sich Kevins Leben retten lassen, wäre er in ein Heim gekommen. Nach seinem Tod wollen viele Gemeinden die Jugendhilfe von Einschnitten ausnehmen.

Doch das Jugendamt oder Behörden im Allgemein können Kinder nicht allein vor prügelnden Eltern schützen. „So abgedroschen das für manche klingen mag, die ganze Gesellschaft muss dieses Problem lösen“, sagt der Leiter des Cottbusser Jugendamtes, Bernd Weiße. Und darin weiß er sich einig mit Kinderschützern, Politikern, Polizisten und Wissenschaftlern. Uneins sind sie sich aber darüber, wie sich die Gesellschaft kümmern soll. Mehr Gesetze und mehr Staatsmacht, das ist der eine Weg. So wie ihn Bayerns Ministerpräsident Edmund Stoiber fordert. Er will die Beschneidung von „vermeintlichen Rechten völlig aus der Bahn geratener Eltern“ und plädiert dafür, die sogenannten Vorsorgeuntersuchungen für Kinder zur Pflicht machen. Laut einer Umfrage im Magazin Stern befürworten das 85 Prozent der Deutschen. Und mehrere von Stoibers Unionskollegen wollen, dass Jugendämter mehr Daten über eventuelle Vorstrafen von Eltern abrufen können. Die Praktiker halten von solchen Vorschlägen aber wenig. Jugendamtsleiter Weiße und Polizist Havemann wollen nicht mehr Kompetenzen für ihre Behörden. Wir sind nur das Ende der Kette, sagen sie. Wir können nur dann helfen, wenn alle anderen bereits versagt haben. Erweiterte Befugnisse hat das Jugendamt seit dem Oktober vergangenen Jahres ohnehin. Es kann Eltern gegen deren Willen die Kinder wegnehmen, wenn es die Gefahr der Vernachlässigung gegeben sieht. Für die Familienexperten von Grünen, SPD und Linkspartei ist das ausreichend. „Das Gesetz müsste nur konsequent angewendet werden“, meinen sie.

Ein anderer Vorschlag ist, Eltern das Kindergeld zu streichen, wenn sie sich zu wenig um ihren Nachwuchs kümmern. Das fordert etwa der Soziologe Klaus Hurrelmann. Der Vorschlag birgt viele Abers. In mehreren Urteilen hat das Bundesverfassungsgericht das Kindergeld als Geldbetrag geschützt, der das Existenzminimum des Kindes sichern soll. Er kann daher nicht der Strafe halber einfach gestrichen werden. Außerdem: Wenn Armut wirklich eine Hauptursache für Verwahrlosung von Kindern ist, dann würde das Minus beim Kindergeld vor allem ALG-II-Empfänger treffen. Doch das Kindergeld wird auf diese staatliche Zahlung angerechnet. Wenn man also das Kindergeld streichen würde, müsste man das Arbeitslosengeld zugleich wieder erhöhen, damit Eltern nicht gegenüber anderen ALG-II-Empfängern benachteiligt sind. Der Präsident des Kinderschutzbundes, Heinz Hilgers wendet zudem ein, dass die Maßnahme am Ende die Kinder träfe. „Gespart würde doch nicht am Alkohol, sondern am Kind.“

Die Ideen für eine stärkere staatliche Intervention treffen aber nicht nur auf diese konkreten Vorbehalte, sondern wegen der deutschen Geschichte auch auf ein ganz pauschales Misstrauen. Sowohl die NS-Diktatur als auch das DDR-Regime griffen mit Zwangsadoptionen und Kontrollbesuchen immer wieder in die Rechte von Familien und Eltern ein. Das Misstrauen gegen staatliche Kontrolle und Bevormundung ist groß.

Anders als in Finnland, wo es seit Jahren das Neuvola-System gibt. Eigens ausgebildete Hebammen und Krankenschwestern besuchen bereits die werdenden Mütter und versuchen in Gesprächen ein Vertrauensverhältnis herzustellen. 99 Prozent aller Familien lassen eine Betreuung durch Neuvola zu. „Entscheidend dafür ist, dass alle Familien besucht werden“, sagt Marjaana Pelkonen vom finnischen Gesundheitsministerium. „Auf diese Weise wird niemand diskriminiert.“ Sie sagt das aber auch, weil nach finnischen Untersuchungen Kindesmisshandlung kein Phänomen der Unterschicht ist. Aufgrund der „unterschiedlichen historischen Erfahrungen“, hält selbst der Familienexperte der sonst recht staatsfixierten Linkspartei, Jörg Wunderlich, Neuvola nicht nach Deutschland für übertragbar. Völlig unmöglich ist es aber nicht.

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Einige kleine Graswurzel-Finnlands existieren seit einigen Jahren in der tiefsten Provinz: Zwei Beispiele sind die Stadt Dormagen bei Köln und der Landkreis Oberspreewald-Lausitz im Süden Brandenburgs.

Ekib (Eltern und Kinder in Beziehung) entstand am Klinikum Niederlausitz, nachdem dort dreijähriges Kind an schweren Hirnverletzungen starb, wahrscheinlich durch Misshandlung. Inzwischen besuchen 50 ehrenamtliche, extra ausgebildete Paten die Familien in der Region um Cottbus und helfen Eltern bei der Betreuung. Zehn Visiten in drei Jahren sind im Vertrag festgeschrieben, die meisten kommen aber öfter. Den Betreuern macht die Aufgabe Spaß, manche finden hier eine Aufgabe oder die Familie, die sie sonst nicht haben. „Aufsuchende Hilfe“ heißt das im Fachdeutsch. Staatlicher Druck wird ersetzt durch sanfte soziale Kontrolle. Zudem werden nicht nur sozial schwache Familien besucht, sondern alle. Das sorgt dafür, dass sich diejenigen, die einen Paten ins Haus lassen, sich nicht als Problemfamilie fühlen müssen. „Großartig ist das“, meint SPD-Familienexpertin Christel Humme, „keine Frau lässt sich gern als schlechte Mutter stigmatisieren, darum verweigern viele auch den Besuch durch das Jugendamt.“

Ähnlich geht es auch Heinz Hilgers, der nicht nur Präsident des Kinderschutzbunds ist, sondern auch Bürgermeister von Dormagen: „Auch wir glauben, dass Vorsorge und Vernetzung vor Ort die beste Möglichkeit sind, das Los von Kindern zu verbessern“, sagt Hilgers. In Dormagen gibt es zwar keine ehrenamtlichen Paten. Aber dafür besuchen dort zwölf Jugendamtsmitarbeiter ebenfalls alle Familien. Zusätzlich werden die Ärzte und die freien Träger von Kitas geschult, Kindesmisshandlungen zu erkennen und sich darüber untereinander auch zu verständigen. „Wichtig ist, dass das alles ohne Zwang abläuft“, sagt Hilgers. Und: Die Hilfe muss von denen kommen, die sich vor Ort auskennen. Darum lehnt er auch alles ab, was danach aussieht, als könne man einen guten Kinderschutz zentral von Berlin aus machen. Seine Erfahrung ist: Es zahlt sich aus, wenn die eigentlichen Aufgaben von den kleinsten Einheiten vor Ort übernommen werden: auf dem Lande von den Kommunen, in Großstädten von den Bezirken. Und die müssen ihre Arbeit kontinuierlich machen, damit sie Akzeptanz in der Bevölkerung findet. „Früher waren unsere Mitarbeiter meist nicht willkommen, denn wer vom Jugendamt besucht wurde, hatte einen schlechten Ruf. Heute sind die meisten Familien freundlich.“

Sowohl Dormagen als auch die Lausitz sind Beispiele dafür, wie mehr Staat im Kinderschutz auch aussehen kann: umfassend, regional verwurzelt und sanft kontrollierend. Die Frage ist vielleicht nicht: mehr Staat oder mehr Eigenverantwortung? Sondern: mehr Staat – und mehr Eigenverantwortung!