Wenn Dissens zum PR-Problem wird

Die New Yorker Affäre um den israelkritischen Historiker Tony Judt zeigt, wie Lobbygruppen Debatten verhindern

Lobbyarbeit gehört zum guten Ton in den politischen und journalistischen Zirkeln Amerikas. Es gibt kaum einen Industrieverband, kaum eine gesellschaftliche Splittergruppe, die nicht mithilfe finanzkräftiger Public-Relations-Kampagnen Gesetzesbeschlüsse und TV-Meldungen aus Washington zu beeinflussen versucht. Doch wie der jüngste Skandal unter amerikanischen Intellektuellen nahelegt, hat die PR-Lobby-Welle inzwischen auch die Intelligenzija in New York erreicht.

Im Zentrum der aktuellen Affäre stehen Historiker Tony Judt, die Anti Defamation League (ADL) und deren neokonservativer Frontmann Abraham Foxman. Judt, Direktor des Remarque-Instituts an der New York University und Amerikas bekanntester Professor für European Studies, hatte einen Vortrag zum ominösen Thema „Die Israel-Lobby und die US-Außenpolitik“ im polnischen Konsulat in New York angekündigt. Eine Stunde vor Vortragsbeginn erhielt er per Telefon die Nachricht, dass sein Auftritt abgesagt worden sei. Zum Skandal wurde die kurzfristige Absage, als die wütende Organisatorin der Veranstaltung und Vorsitzende von Network 20/20, Patricia Huntington, in der New York Sun Foxman für die Annullierung verantwortlich machte und berichtete, dass die ADL versuche, Tony Judts öffentliche Auftritte durch Telefonate und subtile Drohungen zu verhindern. Foxman ist schon lange für seine gezielten, persönlichen Attacken auf Israel-Kritiker bekannt.

Die New York Book Review publizierte nun einen öffentlichen Protestbrief, der von 114 mehr oder weniger prominenten Intellektuellen unterzeichnet wurde. Beachtenswert ist, dass keiner von ihnen – darunter Richard Sennett, Marcia Pally und Seyla Benhabib – Judts wenig sympathischer Position zur Nahost-Debatte zustimmt. Denn für den Europa-Historiker stellt Israel einen staatlichen Anachronismus dar, der schnellstmöglich in einen palästinafreundlichen, binationalen Staat umgewandelt werden sollte. Er votiert damit für das Ende des jüdischen Staates, so wie wir ihn kennen – was zweifelsohne ein politisch absurder Vorschlag ist, solange Israel von Staaten umgeben bleibt, die ihm unter Androhung militärischer Gewalt die Existenzberechtigung absprechen.

Einen Vorgeschmack auf Judts Überlegungen zur „Israel-Lobby“ gab Anfang September ein Essay im London Review of Books, in dem er Amerikas „eingeschüchterte Liberale und Israel-Sympathisanten“ als „nützliche Idioten“ beschrieb, die der katastrophalen Außenpolitik der Bush-Regierung unfreiwillig dienlich seien. Da Judt selbst jüdisch, ein ehemaliger Freiwilliger in der israelischen Armee und einer der eloquentesten Kritiker der deutschen und europäischen Aufarbeitung des Holocausts ist, kann seinen Argumenten kaum mit jenem erprobten PR-Werkzeug des Antisemitismus-Vorwurfs begegnet werden. Vielleicht erklärt sich so Foxmans an sich unerklärlicher Präventivschlag.

Natürlich lieben die New Yorker Intellektuellen ihre Affären. Heute noch wird so lustvoll wie kopfschüttelnd über das Townhall-Meeting von 1982 geredet, bei dem eine aufgebrachte Susan Sontag Kommunismus als „Faschismus mit einem menschlichen Gesicht“ bezeichnete und sich damit einen Großteil der amerikanischen Linken zum Feind machte. Doch die Pointe der Affäre Judt ist nicht jene Hysterie, die mit solchen Skandalen gewöhnlicher Weise einhergeht, sondern gerade ihre Absenz. Es ist eher verwunderlich, dass die Affäre nicht noch größere Wellen geschlagen hat – schließlich geht es nicht darum, was Tony Judt gesagt hat, sondern darum, dass er es nicht sagen konnte.

Die Ankündigung seiner Stellungnahme allein positionierte ihn schon in einem diskursiven Sperrbezirk, der von PR-Machern und Lobbyisten im Dienst neokonservativer Meinungsmache abgesteckt wird: einem Sperrbezirk, wie es ihn in der intellektuellen Diskussion New Yorks schon lange nicht mehr gegeben hat und der eher an die Regimes erinnert, die etwa Susan Sontag des menschlich anmutenden Faschismus bezichtigte. Patricia Huntington hat inzwischen auf Anraten ihrer Anwälte ihre Vorwürfe gegen die ADL und Foxman zurückgenommen. Letzterer hat zum NYRB-Protestbrief noch keine Stellung bezogen.

Solche Schadensbegrenzungsversuche kennt man von den PR-Strategen der Lobbygruppen, Educational Networks und Think Tanks. Was der Protestbrief gegen die aggressive Öffentlichkeitsarbeit dieser Gruppen verteidigt, ist eine Diskussionskultur, in der Dissens kein PR-Problem darstellt, sondern einen Anlass für bessere Argumente. Was hier auf dem Spiel steht, ist nichts weniger als der ideelle Freiraum intellektueller Debatten selbst. DANIEL SCHREIBER