Kevin wurde mit Eltern allein gelassen

Bericht zum Tod des Bremer Jungen: Die Sozialbehörde kümmerte sich nur um die Eltern, nicht um das Kleinkind

BREMEN taz ■ Blauäugig, gutgläubig, desorganisiert, ohne interne Kontrolle, über jede Kritik erhaben und im Zweifel stets auf Seite der Eltern anstatt auf der des Kindes – dieses Bild von der Bremer Sozialbehörde zeichnet der gestern von Justizstaatsrat Ulrich Mäurer vorgelegte Bericht zum Fall Kevin.

Die „äußerst kritische“ Situation des Kleinkinds, das Polizeibeamte am 10. Oktober tot im Kühlschrank seines Vaters gefunden hatten, war der Behörde demnach seit Jahren bekannt. Sowohl das Amt für Soziale Dienste als auch der Amtsvormund hielten aber an der einmal getroffenen Entscheidung, Kevin bei seinen drogenabhängigen Eltern zu lassen, fest. Auch viele Hinweise, Proteste und Interventionen von Ärzten, Hebammen, Polizei und selbst von eigenen MitarbeiterInnen, die Kevin gesehen hatten, konnten die Beamten nicht umstimmen.

Die Sozialbehörde hatte bisher stets ihre Unwissenheit beteuert. Der Bericht belegt das Gegenteil: Schon die unter Beteiligung des Jugendamts kurz nach Kevins Geburt getroffene Entscheidung, auf eine Inobhutnahme des Säuglings zu verzichten, war hoch umstritten. Die Klinik qualifizierte sie als „Ausnahmeentscheidung“, die man nur bei einer engmaschigen Betreuung und Begleitung von Kind und Eltern verantworten könne. In der Realität war davon jedoch keine Spur. Wochenlang habe das Jugendamt „keinerlei Aktivitäten entwickelt“, resümiert Mäurer, die Eltern „waren mit Kevin allein zuhaus“. Hilfsangebote lehnten sie ab. Das Amt gab sich damit zufrieden. „Es ist keine Kontrolle etabliert worden, durch die das Amt eine Gefährdung des Kindeswohls rechtzeitig hätte erkennen können“, heißt es in dem Bericht. Selbst Knochenbrüche des Säuglings führten nicht zu einem Sinneswandel. Kritik, so lässt sich anhand der Akten nachweisen, war dem Amt „offenbar lästig“ und wurde „zum Teil in barscher Weise abgetan“, KritikerInnen begegnete man „aggressiv abweisend“.

Mehr noch: Das zuständige Sozialzentrum verschleierte die Realität. Seine Berichte „stellen Erwägungen als konkrete Projekte und Absichten als Ereignisse dar“, „relevante und negativ einzustufende Informationen“, etwa über das Verhalten der Eltern, fanden keinen Eingang. Stattdessen erweckten sie den Eindruck einer „optimistischen“ Zukunftsperspektive für das Kind.

Mäurer betonte gestern, dass eine fachliche Weisung seit Februar 2005 präzise Anweisungen für den Umgang mit Kindern drogenabhängiger Eltern gebe. Im Fall Kevin sei sie jedoch nicht befolgt worden. Und ein Kontrollsystem, das dies hätte aufdecken können, gab es nicht.

Das Sozialressort räumte gestern „gravierende Fehler“ ein. Man werde noch in diesem Jahr Verbesserungsvorschläge vorlegen. ARMIN SIMON