Schnell rein, schnell raus

Kaum war der Gedenktag an den Orkan „Katrina“ Ende August vorbei, begab US-Präsident George W. Bush sich auf den Kriegspfad. Genau koordiniert mit dem fünften Gedenktag an den 11. September 2001 hielt er eine Serie von Reden zum Thema „nationale Sicherheit“. Sein Bemühen, die diffizile Situation im Irak in einen breiteren und notwendigen Existenzkampf der freien Welt gegenüber den islamistischen Terroristen einzubinden, klappte auch erst mal: In Umfragen erzielte er wieder bessere Werte. Später im September stimmten viele Demokraten in Kongress und Senat einem „Kompromiss“ zu, der dem Präsidenten das Recht gibt, die Definition von Folter in den Genfer Konventionen nach Gutdünken zu interpretieren.

Dann passierte „Foleygate“. Noch ein Orkan. Aber ganz anderer Art. Auf einmal war Sex wieder zentrales Thema im politischen Wettstreit. Ein republikanischer Abgeordneter aus Florida, Mark Foley, hatte an Teenager (obwohl nicht minderjährig) sexuell gefärbte E-Mails und SMS-Nachrichten verschickt. Zu allem Überfluss war Foley auch der Vorsitzende der Kommission, die zuständig war für den Schutz von Kindern vor sexuellen Übergriffen per Internet. Aus demokratischer Sicht war das ein gefundenes Fressen. Die Sexualmoral-Heuchelei im rechten Lager schien auf einmal unübersehbar.

Es traf gerade die Partei, die nicht zuletzt dank des raschen Aufstiegs der religiösen Rechten im vergangenen Jahrzehnt an die Macht gekommen war. Deren Politiker und Lobbyisten dauernd gegen Homosexuelle, das Abtreibungsrecht und die Pornografie wettern. Die darauf besteht, voreheliche Abstinenz in der schulischen Aufklärung und in der internationalen HIV-Bekämpfung zu predigen. Die auch den Verkauf von Kontrazeptiva an unverheiratete Frauen erschweren will. Plötzlich hatte diese Partei einen wenn nicht sexuell kriminellen, so doch sexualmoralisch nicht gerade sauberen Mann in ihren Reihen.

Dann wurde auch noch der Sprecher des Kongresses, Dennis Hastert, ebenfalls Republikaner (und dank seiner Stellung der Dritte in der Reihe derer, die Präsident werden, falls Bush und Cheney je etwas zustoßen sollte), entlarvt als mitverantwortlich für die Vertuschung der Affäre. Man hatte ihn schon vor mehr als einem Jahr von den Vorgängen in Kenntnis gesetzt, ohne dass er etwas unternommen hätte.

Die Republikaner mussten auf einmal befürchten, dass die evangelikalen protestantischen Wähler (ein Fünftel, wenn nicht gar ein Viertel aller amerikanischen Wähler), die 2004 zu mehr als 70 Prozent für Bush gestimmt hatten, nun aus Ekel und Enttäuschung entweder demokratisch wählen oder zu Hause bleiben würden.

Die rechtsreligiösen Lobbyisten waren zusätzlich irritiert, da die Bush-Regierung ihnen nicht so viel geschenkt hatte, wie sie erhofft und erwartet hatten (zum Beispiel eine kraftvollere Verteidigung der Heteroehe). Und sie klagten, dass die Mächtigsten im Weißen Haus sie doch nur herablassend toleriert hätten, solange es politischen Nutzen brachte. Einige spekulierten bereits über eine bevorstehende Spaltung zwischen Big Business und konservativer Religion im republikanischen Lager.

Jetzt schlagen Republikaner zurück – und wieder geht’s um Sex. Sie konzentrieren sich nun besonders auf die Senatorenwahlkämpfe in den heftig umkämpften Bundesstaaten Tennessee, Missouri und Virginia. In Tennessee gab es TV-Werbespots für den (zufällig weißen) Republikaner Bob Corker, mit denen versucht wird, den demokratischen Gegner, den (zufällig schwarzen und unverheirateten) Harold E. Ford Jr., gegenwärtig demokratischer Abgeordneter, als geil auf weiße Frauen darzustellen. Eine leicht bekleidete weiße Frau, auf der Straße auf Ford angesprochen, zwinkert sexy in die Kamera und sagt: „Harold, call me.“

Ohne Frage war beabsichtigt, in diesem südländischen Bundesstaat alte Hemmungen und sexuell gefärbte Vorbehalte gegenüber schwarzen Männern und besonders gegenüber dem, was kokett Interracial Dating genannt wird, wiederzubeleben. Wenn Ford gewinnen würde, wäre er der erste schwarze Senator nicht nur aus diesem Bundesstaat, sondern aus dem gesamten Süden seit dem 19. Jahrhundert. Was war die Grundlage der Anspielungen? Ford hatte 2005 beim Football-Super-Bowl in Florida an einer Fete teilgenommen (gemeinsam, wohlgemerkt, mit 3.000 anderen Menschen), die vom Playboy-Magazin gesponsert wurde. Ford ist kaum als Linksliberaler anzusehen. Er wird Wählern des Öfteren als jemand präsentiert, der einem nie „deine Bibel oder dein Gewehr wegnehmen würde“. Trotzdem endet der republikanische Werbespot mit dem vielsagenden Ausspruch: „Harold Ford. He’s just not right.“ Er ist einfach nicht ganz richtig. Oder rechts.

Die republikanische Strategie hier ist gekennzeichnet von Blitzinterventionen: schnell rein, schnell raus. Der Fernsehwerbespot lief und wurde bald als rassistisch kritisiert. Republikaner (nicht zuletzt auch Ken Mehlman, Vorsteher des Republican National Committee) taten betont erstaunt und beteuerten, da sei nichts Rassistisches dran. Und dann verschwand die Werbung. Aber die beabsichtigte Wirkung ist erzielt worden.

Ähnlich schnell rein, schnell raus ging es bei einem ganz anderen – aber in den amerikanischen sexualpolitischen Streitigkeiten absolut nicht unwichtigen – Fall: der konservativen Attacke auf den Schauspieler Michael J. Fox, der seit Jahren unter Parkinson leidet und sich für Stammzellenforschung einsetzt. In Werbespots für Stammzellenforschung unterstützt er demokratische KandidatInnen in diversen Staaten – einer ist Missouri. Er zittert und schwankt stark, während er den Wählern diese Kandidaten empfiehlt. Der notorisch konservative Kommentator Rush Limbaugh, der selbst in Skandale wegen Schmerzmittelabhängigkeit und Viagrarezepten verwickelt ist, hält Fox vor, er habe geschauspielert, um seine Krankheit drastischer darzustellen, als sie wirklich ist, um so mehr Mitleid zu erheischen.

Rechtsreligiöse und Antiabtreibungskreise sind die Hauptverantwortlichen dafür, dass Stammzellenforschung in den USA so umstritten ist, und der Einsatz von Betroffenen wie Fox ist wichtig, um Identifikationsmöglichkeiten mit kranken Menschen zu offerieren. Kurz gefasst: Limbaugh hat nicht gezögert, negative Reflexe gegenüber Behinderten und Kranken zu schüren, um den Demokraten eins auszuwischen. Limbaugh hat bewusst übertrieben im Fernsehen Michael J. Fox „imitiert“ und mit wildem Körperschaukeln nachgeäfft. Inzwischen hat Limbaugh sich nur halbwegs entschuldigt – „falls“ er mit der Unterstellung, Fox habe nur geschauspielert, Unrecht gehabt haben sollte. Aber das ganze Skandälchen hat der rechten Bloggerszene, die in diesem Wahlkampf wichtiger ist als je zuvor, große Energie verliehen, und konservative Blogger verteidigen weiterhin den Angriff auf Fox.

Drittens geht es wieder mal um die Homoehe. Am 25. Oktober hat das höchste Gericht des Bundesstaates New Jersey entschieden, dass gleichgeschlechtliche Paare die gleichen Zivilrechte und die gleichen finanziellen Begünstigungen bekommen sollten wie heterosexuell verheiratete Paare, und die bundesstaatlichen Gesetzgeber dies innerhalb einer Frist von sechs Monaten in Gesetz verwandeln müssen. Wobei es ihnen überlassen bleibt, ob mit diesem Gesetz Civil Unions, also eine eheähnliche Institution, so wie sie Vermont hat, für gleichgeschlechtliche Paare geschaffen werden, oder ob Schwulen und Lesben tatsächlich – wie in Massachusetts – die Ehe ermöglicht wird.

Fest steht, dass ein Verbot gleichgeschlechtlicher Ehe in acht Bundesstaaten in der bevorstehenden Wahl auf dem Wahlzettel steht und ein stark mobilisierungsfähiges Thema bleibt. Für den Bush-Sieg 2004 war es ausschlaggebend, dass in elf Bundesstaaten genau diese Verbote von den Wählern unterstützt wurden; in neun dieser elf Bundesstaaten hatte Bush auch gewonnen. Schon am Tag nach der richterlichen Entscheidung in New Jersey stand auf der offiziellen Website der rechtsreligiösen Organisation Focus on the Family zu lesen, dass James C. Dobson, der außerordentlich einflussreiche Gründer dieser Organisation und einer der Hauptverantwortlichen für Bushs Wahlsieg 2004, die konservativen Wähler zum engagierten Mitmachen bei der nächsten Wahl aufruft.

Dobson nennt die Entscheidung des Gerichtshofs von New Jersey „arrogant“ und „eine Travestie“, die „Verachtung“ offenbaren würde gegenüber dem amerikanischen Volk sowie gegen die Institution Ehe. Maggie Gallagher, Präsidentin des Institute for Marriage and Public Policy, kam nicht umhin zu bemerken, dass dieser Gerichtshof der gleiche war, der den Pfadfindern (Boy Scouts) schwule Jungführer zugemutet hatte.

Beim Thema Homophobie sind die USA ein gespaltenes Land. Eheähnliche Civil Unions finden landesweit 45 Prozent Unterstützung, 48 Prozent sind dagegen. Die gleichgeschlechtliche Ehe findet 36 Prozent Unterstützung, 58 Prozent Gegner. Aber wenn es konkret wird, zum Beispiel im Senatswahlkampf in Virginia, wo der Republikaner George Allen kürzlich Schwierigkeiten hatte wegen seines rassistischen Ausrutschers gegen einen Amerikaner indischer Abstammung, den er „Macaca“ (Affe) genannt hatte, und es möglich ist, dass sein demokratischer Gegner James Webb gewinnt, sind es bei Umfragen trotzdem 53 Prozent, die in Virginia für das Verbot der gleichgeschlechtlichen Ehe stimmen werden (43 Prozent sind dagegen).

Demokrat Webb selbst ist auch überzeugt, dass die Ehe etwas ist, was nur zwischen einem Mann und einer Frau geschehen kann; er begründet seine Kritik damit, dass der Text des Verbots so unklar ist, dass er auch gegen unverheiratete Heterosexuelle missbraucht werden könne.

Zusammen gesehen ergibt das Ganze ein merkwürdig widersprüchliches Bild. Trotz der gegenwärtigen Anstrengungen der Republikaner könnte es bergab gehen mit ihnen. Und interessanterweise schieben die rechtsreligiösen Aktivisten und andere republikanische Kommentatoren dem nun offen bekennenden Schwulen Mark Foley, der Untergebene belästigt hat und jetzt nicht mehr hoffähig ist, eine möglicherweise bevorstehende Niederlage in die Schuhe. Tony Perkins, Präsident des einflussreichen rechtsreligiösen Family Research Council, wurde gerade am 20. Oktober in der New York Times zitiert: „Der Foley-Skandal hat die Luft aus den Reifen gelassen.“ Und der findige republikanische Stratege Grover Norquist sagt voraus, dass verlierende republikanische Kandidaten in späteren Jahren rückblickend sagen werden: „Ich war’s nicht, der die Wahl verloren hat. Foley hat sie für mich verloren.“

Auch wenn Republikaner in den bevorstehenden Wahlen verlieren und dadurch die Partei die Kontrolle über eines oder gar beide Kongresshäuser verliert, und auch wenn die religiöse Rechte sich weiter mit den Big-Business-fixierten Republikanern verzankt, sind durch den Aufstieg der religiösen Rechten in den vergangenen zehn Jahren schon gravierende Schäden in der US-Kultur entstanden, die Langzeitfolgen haben werden. Die religiöse Rechte hat große Erfolge erzielt. Die Berufung der konservativen Katholiken John Roberts und Samuel Alito zum höchsten Gerichtshof des Landes ist nur einer der offensichtlichsten Beweise für die Durchsetzungskraft, die die religiöse Rechte hat.

Auf bundesstaatlicher und lokaler Ebene wurden hunderte kleine und große Verengungen des Abtreibungsrechts verankert. In 87 Prozent aller Counties in den USA sind die – immer noch offiziell legalen – Abtreibungen gar nicht zu bekommen; zwei Drittel aller Bundesstaaten erschweren den Zugang jugendlicher oder armer Frauen zur Abtreibung. Und der Bundesstaat South Dakota hat ein Gesetz verabschiedet, das sämtliche Abtreibungen, auch im Falle von Vergewaltigung oder bei Gefahren für die Gesundheit der Mutter, illegal macht; weitere Bundesstaaten überlegen sich ähnliche Gesetze.

Hier, auf diesen unteren Ebenen, gibt es auch die Gesetze gegen Aushändigung von Kontrazeptiva an Unverheiratete; die Gesetzesvorlagen, die Ärzten das Recht geben würden, schwule oder lesbische PatientInnen „aus Gewissensgründen“ nicht zu behandeln; die Gesetze gegen den Verkauf von Sexhilfsmitteln. Und ehe jemand über diese Antivibratorengesetze lächelt, sollte angemerkt werden, dass in den Richtersprüchen zum Thema davon die Rede ist, dass zur Bestätigung dieser Gesetze der Glaube der Abgeordneten genügen würde, dass „die Herbeiführung von Orgasmen durch artifizielle Mittel allein um ihrer selbst willen negative Auswirkungen auf die Gesundheit und die Moral im Bundesstaat haben würde“. Ein Gericht in Alabama fand, dass „die Vermarktung von sexueller Stimulierung und Autoerotismus um ihrer selbst willen“ unterbunden werden darf, soweit es nicht einem höheren Gut diene – wie „Ehe, Reproduktion oder familiäre Beziehungen“.

Auf der lokalen Basis und der der Bundesstaaten werden auch die Kämpfe um die schulische Aufklärung ausgefochten. Anno 2006 gibt es in nur 14 Prozent aller Highschools in den USA noch die sogenannte Comprehensive Sex Education. In 30 Prozent aller Highschools wird ausschließlich voreheliche Abstinenz empfohlen, um ungewollte Schwangerschaften und Geschlechtskrankheiten zu verhindern; in den restlichen mehr als 50 Prozent dürfen Kondome und Kontrazeptiva zwar angesprochen werden, aber auch dort wird Abstinenz empfohlen. Und auch in diesen wird der anzusprechende Inhalt stark beschränkt: zum Beispiel in einem der liberaleren Vororte von Detroit, Michigan. Dort definiert das Curriculum den Geschlechtsverkehr so: „Penis in Vagina, liebevoll, in der Ehe.“

Vorbei sind die Zeiten, in denen LehrerInnen Konsens- und Verhandlungsmoral oder lustvolle Praktiken, die trotzdem sicher sind, erläutern konnten; heutzutage würden ihre Schulleitungen vors Gericht gezerrt. Nur drei Bundesstaaten haben sich durchringen können, auf Bundesgelder bei der Aufklärung zu verzichten. Bei allen anderen gilt das Bundesgesetz: Die zu verbreitenden Botschaften lauten: „Eine gegenseitig treue monogame Beziehung im Rahmen der Ehe ist der zu erwartende Standard sexueller Aktivität.“ Und: „Sexuelle Aktivität außerhalb der Ehe hat mit Wahrscheinlichkeit schädliche psychologische und physische Nebeneffekte.“

Konservative evangelikale Protestanten haben sich mit konservativen Katholiken zusammengetan in einem gemeinsamen Kampf, genannt Co-Belligerency, um die Grenzen zwischen Kirche und Staat auf vielen Ebenen zu unterwandern und die USA offiziell und offensiv in eine „christliche Nation“ zu verwandeln. Das wird ganz offen gesagt. Eine Politikerin in Florida, die Repräsentantin Katherine Harris, die sich nun um eine Stelle im Senat bemüht, sagt schlicht, die Trennung zwischen Kirche und Staat sei „eine Lüge“.

Bei einem Volk, das zu 80 Prozent an Gott glaubt, und bei dem doppelt so viele Bürger an den Teufel glauben als an die Evolution, ist es eben auch schwierig, Gegenargumente gegen Interventionen der religiösen Rechten zu Sexthemen zu liefern. Dazu kommt, dass die religiöse Rechte eben nicht nur sexualrepressiv ist, sondern ihren eigenen Anhängern – innerhalb der monogamen Heteroehe – ekstatischen Sex verspricht. Genau die gegenwärtig panikmachenden Themen von Libidoverlust und emotionaler Öde in der Ehe bieten zum Beispiel der religiösen Rechten die nötige Angriffsfläche, denn ihre Sprecher argumentieren unter anderem, dass die voreheliche Enthaltsamkeit den ehelichen Sex noch heißer macht.

Demokraten und ihre liberalen Ratgeber sind bei fast allen Sexualitätsthemen – nicht nur beim Abtreibungsthema, sondern eben auch bei der HIV-Prävention, bei der jugendlichen Sexualität im Allgemeinen und bei der Pornografie und dem Recht auf Kontrazeptiva – verunsichert und eindeutig in der Defensive.

Die religiöse Rechte hat es in einem Vierteljahrhundert stetigen Ringens erreicht, dass der US-Diskurs zu sexuellen Themen gewaltig nach rechts verschoben worden ist. Auch wenn die Demokraten in zwei Wochen gewinnen: Die gegenwärtige Gesetzeslage auf Bundes- sowie Bundesstaatenebene wird schwer zu verändern sein.