Steil in die Tiefe

Am Abgrund der Kunst: Carsten Höller hat für die „Unilever Series“ fünf Rutschen in die Turbinenhalle der Londoner Tate Modern installiert

Sympathisch: Höllers Aufforderung, der Kunst den Buckel hinunterzurutschen

VON JULIA GROSSE

Dreißig Meter lange Schlangen, das gab es in der Tate Modern schon lange nicht mehr. Der deutsche Künstler Carsten Höller hat in die Turbinenhalle des Museums fünf enorme, metallisch blitzende Rutschen gelegt, die höchste jagt aus der fünften Etage auf 55,5 Metern Länge steil in die Tiefe, die kürzesten beginnen auf und enden unter der Brücke der Turbinenhalle.

Die „Unilever Series“ sind längst zum Prestigeauftrag und zur künstlerischen Herausforderung geworden, in den vergangenen sechs Jahren wurde die Turbinenhalle unter anderem von Juan Muñoz, Bruce Nauman oder zuletzt Rachel Whiteread bespielt. Höllers dezente Arbeit „Test Site“, deren riesige Schatten an den hohen Wänden aussehen wie Vladimir Tatlins geplanter Turm zur III. Kommunistischen Internationale, betont perfekt die einschüchternde Leere der Turbinenhalle. Seine Rutschen, die in seinem Werk bereits seit den Neunzigerjahren auftauchen, sind Skulpturen, die unsere eingerosteten Schreibtischglieder kurzzeitig aus der Kontrolle bringen sollen. Den 1961 geborenen Künstler wundert es schon lange, warum das Rutschen stets mit Kinderspielerei verknüpft wird und nicht etwa als öffentliches Transportmittel funktioniere, wie die Treppe oder der Aufzug. Ideen, die nicht zuletzt an die befreienden Architektursysteme von 60er-Jahre-Gruppen wie Archigram erinnern, die sogar laufende Städte erfanden.

In der Tate Modern nun ist es natürlich allein dem Kontext zu verdanken, dass plötzlich auch Geschäftsleute in (noch) knitterfreien Anzügen neben Kindern mit Eltern zum Rutschen anstehen: Erst der Ort des Museums verklärt Nutzartikel der Freizeitindustrie in Kunstobjekte, die die Besucher im Sekundentakt von den oberen Etagen nach unten befördern. Vor drei Jahren zeigte Höller in der Tate-Modern-Gruppenausstellung „Common Wealth“ eine Arbeit mit fünf verglasten Türanlagen, die sich in eine Richtung automatisch öffneten und einen wie in einem beflügelnden Sog vorantrieben. Der gleiche Weg zurück dagegen war beklemmend, da man sich zwischen den Türen plötzlich wie in reflektierenden Zellen fühlte. In „Test Site“ lauert das Verstörende, das Carsten Höllers Arbeiten immer wieder unterliegt, nicht zuletzt am Ende der Rutschpartien, wo sich täglich Trauben schaulustiger Besucher versammeln, um die unförmig Landenden höhnisch auszulachen und zu fotografieren.

Das vielleicht Sympathischste an Höllers Arbeit ist allerdings die indirekte Aufforderung, der Kunst wortwörtlich den Buckel hinunterzurutschen. Leider wird gerade diese Assoziation der Tate Modern zur selbst gelegten Falle, denn schon länger wird gelästert, dass das Haus an der Themse zur reinen Unterhaltungshochburg degeneriere. Jährlich zieht es zwar unzählige Besucher an, doch interessieren die sich mehr für den spektakulären Ort als dessen Kunst. Carsten Höllers Rutschen drohen zu einem weiteren Gadget auf einer Art Amüsiermeile zu werden: Neben neuen, sehr schicken Infohäuschen zur spielerischen Kurzeinführung in die Kunstgeschichte komponieren derzeit monatlich Musikgrößen wie Ex-Blur-Gitarrist Graham Coxon oder die Chemical Brothers zu einem Werk aus der Sammlung einen „Tate Track“ . Zu hören übrigens direkt vor dem Werk.

The Unilever Series: Carsten Höller, „Test Site“, Tate Modern, London, bis 9. April 2007