Die Sehnsucht von damals und die Filmkunst von heute

Mit seinem überzeugenden Programm hat sich Claas Danielsen als Leiter durchgesetzt: Eindrücke vom 49. Internationalen Leipziger Festival für Dokumentar- und Animationsfilm

Die vielen Podiumsdiskussionen machen einen klüger. Das Wetter ist auch super

Als er vor drei Jahren die Nachfolge des charismatischen Fred Gehler übernommen hatte, war der 40-jährige Festivalleiter Claas Danielsen beargwöhnt worden. Manche hatten befürchtet, seine vielfältigen Versuche, das traditionsreiche Leipziger Festival zu einem der zehn international wichtigsten Dokumentarfilmereignisse zu machen, würden zu Lasten des Autorendokumentarfilms gehen. Seine Entscheidung, das traditionelle Festivallogo – Picassos Friedenstaube – zu verjüngen, führte dazu, dass man ihn als „Taubenschlächter“ beschimpfte.

Schnee von gestern. Danielsens überraschend leidenschaftliche Eröffnungsrede beim diesjährigen Leipziger Festival wurde gefeiert; es ging in ihr darum, inwieweit den Bildern zu trauen wäre. Dass er im Verlauf des Festivals mit seinem Trekkingrad zwischen den verschiedenen Veranstaltungen hin und her raste, sicherte ihm Streetcredibility. Aber die anhand des didaktisch montierten Festivaltrailers gestellte Frage (man sieht ein Flugzeug, dann Menschen, die nach oben gucken, und denkt logischerweise gleich an den 11. 9.), inwieweit man Bildern trauen könne, ist eigentlich komisch, denn der Augensinn als Distanzsinn hat ja eher mit Suspense, Schuss, Panik, Angst zu tun, während das Ohr das Organ des Vertrauens ist.

In einem kleinen, poetischen Film „Amy“ von Mike Hoolboom (Kanada 2003), der in der „Fake!“ betitelten, sehr schönen Sonderreihe gezeigt wurde, weist die Filmemacherin auf die Doppelbedeutung des taking pictures hin – danach fehlt etwas. Ein Klassiker des Fake-Dok-Genres – „Human Remains“ von Jay Rosenblatt – unterlegt Bilder von Hitler, Mao, Stalin, Franco mit Fakeautobiografien; „Two Women and a Man“ von Roee Rosen (Israel 2005) entwirft mit den Versatzstücken der Kunst- und Geistesgeschichte die skandalöse Fakebiografie einer jüdischen Surrealistin. Der bezaubernd naive Film „Suki“ von Miriam Glaser (D 2005) entwirft eine klassische Wunschbiografie: Eigentlich ist die halbkoreanische Regisseurin die Tochter der koreanischen Königin und alles ist politisch sehr brisant. Die Bilder, die sie auf einer Reise nach Südkorea macht, unterlegt sie mit ihren Fantasien.

Das ist sicher naiv. Andererseits ist die Wunschenergie, mit der man eine Parallelgeschichte füllt, die grundsätzlich in einer gewissen Entfernung zum Wirklichen steht, sehr real und wirkungsmächtig: Der Dokumentarfilm „Revolution“ von Jouko Aaltonen (Finnland 2006) erzählt von der offensichtlich sehr starken kommunistischen Gesangsbewegung im Finnland der 70er-Jahre; junge Idealisten, die Agitproppop machten und singend viele Menschen für ihre Sache gewannen. Der Film besteht aus Interviews, Originalmaterial – teils auch auf dem Weltjugendtag in Berlin 1973 gedreht –, großartig musicalhaft inszenierten Liedern. Man liebt den in Finnland erfolgreichen Film, weil der Unterschied zwischen Wunsch und Wirklichkeit und dem, was daraus wurde, so groß ist. Für 90 Minuten gestattet man sich, die Leute von damals um ihre Träume zu beneiden. Die Sehnsucht von damals ist hier in der Kunst aufbewahrt.

In dem großen amerikanischen Film „Jonestown“ (Stanley Nelson), der die Geschichte der Volkstempelsekte von Jim Jones superspannend rekonstruiert, endet diese Sehnsucht mit dem größten Massenselbstmord der jüngeren Geschichte. Am Ende des Films sagen Überlebende, sie hätten es ja wenigstens versucht. Auf eine ähnliche Dokumentation über die „AAO“ von Otto Mühl wartet man noch.

Superschön ist Rainer Komers Film „Kobe“ geworden, der kommentarlos von der Architektur und Arbeitsprozessen in der gleichnamigen japanischen Hafenstadt erzählt. Der russische Regisseur arbeitet an einer Serie über beschädigte Städte. Sergei Loznica, der in den letzten Jahren viele Preise in Leipzig gewann, hat Stummfilmmaterial über die Blockade Leningrads von 1941 bis 1944 gesichtet, geordnet und zu einem Film – „Blockade“ – zusammengeschnitten, der einen sprachlos macht. Am bewegendsten bislang Barbara Honingmans „Forever“ (NL 2006), der von Zufallsbegegnungen auf dem Père Lachaise erzählt, von toten Künstlern (Proust, Apollinaire, Oscar Wilde, Modigliani usw.), ihren Verehrern und „normalen“ Toten; vom Leben, das den Tod berührt, und der Kunst, die das Leben transzendiert. Jim Morrison wird dankenswerterweise nur am Rande berührt.

Ganz großes Kino klingt ziemlich bescheuert. Die vielen Podiumsdiskussionen machen einen klüger. Das Wetter ist auch super.

DETLEF KUHLBRODT

Noch bis morgen; Programm unter www.dokfestival-leipzig.de