Leute, die rot werden

Filmemachen ist gegenseitige Überforderung, Reizung, Sex, Konkurrenz und Kumpanei – ein Essay über den Regisseur Klaus Lemke, seinen Film „Running Out of Cool“, den heiligen Moment, der dem Drehen vorausgeht, und den Mangel an Filmkopien

Einen toll finden, selber toll sein, sich um Kopf und Kragen reden, darum geht’s

von RAINER KNEPPERGES

Als Peter Nau Anfang der 90er im Berliner Kino Arsenal die Filme der Münchner Gruppe zeigte, sah man dort „Die Sweethearts“ (von 1977) und „Amore“ (1978). Für die Lemke-Retrospektive, die vor einigen Jahren in Hamburg und Berlin vorwiegend als Videoprojektion lief, waren keine Filmkopien mehr aufzutreiben. Das kommt natürlich auch daher, dass Klaus Lemke sich selber nicht um Bestandssicherung schert. In mancherlei Hinsicht ist sein einziges Interesse das, was davor passiert: vor Drehbeginn, vor der Kamera, vor allem Endgültigen.

Das ist auch die einfachste Erklärung, warum der vergangene Ruhm und die zwanzig Jahre ohne Erfolg den Mann so wenig tangiert haben; das erklärt aber gleichzeitig auch, wieso sein Film „Running Out of Cool“ so über alle Maßen geglückt ist. Ein konzentriertes Alterswerk, getarnt als atemloser Debütfilm, dessen Schöpfer im Vorspann ohne Namensnennung sein Gesicht hinter einer Piratenflagge versteckt. Der Raubzug in den eigenen Gewässern, den Straßen Schwabings, birgt als funkelnden Schatz ein Ensemble begnadeter Darsteller. Für einen Jungen aus Hamburg (Maxi Treu) ist es ein Kinderspiel, bei ARRI eine 35mm-Kamera zu klauen. Aber der andere selbstbewusste Kerl (Johannes Raspe), der die Hauptrolle übernehmen soll, warnt den jungen Regisseur: Die Kellnerin (Marlene Morreis) und die Stripperin (Claudia Grimm) werden fürs Filmemachen nicht die starke Position aufgeben, die sie beim Sex innehaben. Und ohne sie geht nichts.

Kein anderer Spielfilm über das Filmemachen hat je so viel Enthusiasmus gezeigt, ohne das geringste Pathos aufkommen zu lassen. Wie bei dem amerikanischen Regisseur Howard Hawks kämpft jeder mit jedem mit billigen Tricks und geklauten Sprüchen, bis klar ist, worum es geht: um den heiligen Moment, wenn sich zwei von einander hinreißen lassen. Dass anwesende Dritte und Vierte dabei nicht stören, gar förderlich sind, verträgt sich gut mit dem Wesen der filmischen Arbeit.

Lemke erzählt, der Film habe einem Sender ganz gut gefallen, man habe ihm vorgeschlagen, ein TV-Remake zu machen mit richtigen Schauspielern, die langsam und deutlich sprechen. Wer weiß, meint er, wie viele Filme in Deutschland vom Fernsehen mit richtigen Schauspielern „noch mal neu“ gemacht werden; und die eigentlichen Filme werden heimlich vernichtet. Eine tolle Paranoia-Fantasie, selber Stoff für einen Film.

1999 auf 35mm gedreht, erlebte „Running Out of Cool“ als Videoprojektion – die Klebestellen der Arbeitskopie gut sichtbar – seine gefeierte Premiere im Januar 2002 auf einem in jeder Hinsicht einmaligen Frankfurter Filmfestival. Kurz darauf, beim spannenden Match zwischen der Nummer 1 unter den Nostalgikern (Werner Enke) und der Nummer 1 unter den Antinostalgikern (Klaus Lemke), beim Podiumsgespräch anlässlich der 60er-Jahre-Retro auf der Berlinale, erlebte man komplett unvereinbare alte Freunde, die sich aber einig waren, dass Stereo impotent macht – und dass die besten Filme entstehen, wenn man sich total verschuldet hat.

Das wenige, was Lemke immer gerne von damals erzählt: Sie hielten das amerikanische Kino ganz naiv für ein getreues Abbild des Lebens, wie es dort stattfindet und hier stattfinden müsste: „Dokumentationen darüber, wie’s sein könnte.“ Dazu passend demonstrierte Werner Enke mit welcher Geste Dean Martin in „Some Came Running“ dem Sinatra, der an der Schreibmaschine verzweifelt, so nebenbei die Schnapsflasche hinschiebt. Solche Gesten, meinte er, die seien es gewesen. Aber indem Enke das so nachmachte, lag darin auch, dass Lemke eben noch immer an der Schreibmaschine sitzt, das heißt: Er macht Filme, Enke nicht mehr.

Das Filmemachen in „Running Out of Cool“, auch wenn es nur um die heiße Zeit davor geht: Es ist gegenseitige Überforderung, Reizung, Sex, Konkurrenz, Kumpanei. Die Lebenslust, die dabei sichtbar wird, verlangt eine irre Selbstbehauptung. Die läuft übers Sprechen. Und das ist natürlich keine gepflegte Mitteilungsform, sondern – wie bei Hawks – haarsträubende Action. Wer sich nicht um Kopf und Kragen reden mag, bleibt blass. Jean-Marie Straub war so wichtig, sagt Lemke, wegen der Art, wie Straub redet. Zum eigenen Schutz ist Lemke pseudoantiintellektuell. Aber seine Filme sind ohne Deckung. Als roter Faden gehen Geschichten von Jungs und ihren älteren Vorbildern durch das Oeuvre. Einen toll finden, selber toll sein wollen, darum geht’s. Die verrückten Liebesgeschichten, die er erzählt, sind davon vollgesogen. Ich behaupte, dass seine feste Position im filmpolitischen Abseits da herrührt. Denn vom Überleben durch bloße Selbstbehauptung und durch deren ansteckende Ausbreitung, zu handeln, ist nicht wirklich respektabel. In Lemkes Filmen sieht man, was sonst auf der Leinwand nie zu sehen ist: Leute, die rot werden.

Klaus Lemke sei ja eigentlich gar kein richtiger Filmregisseur, das sagte mir ein Filmmuseumsdirektor, ein richtiger Rektor. Die Angreifbarkeit des Selbstbewusstseins ist eben etwas, das man nicht zu ernst nehmen soll, und gleichzeitig etwas, worüber man keine Witze macht. Von daher ein Stoff für Komödien. Und doch sind Lemkes Komödien im Grunde schwer melancholisch. Dokumentationen darüber, wie’s sein könnte. Aufrichtiges, weil unreines Kino, zu 40 Prozent reine Poesie.

Scorsese hat mal geschrieben, er hätte so gerne die Filme gesehen, die in „The Bad And the Beautiful“ gedreht werden. In dem Film, der in „Running Out of Cool“ gedreht werden soll, werden Orgasmen durch Gedankenübertragung ausgelöst, in einem Tabledancelokal. Der milchgesichtige Regisseur staunt hinreißend über die Effekte, die dieser wilde Quatsch schon vorweg auslöst bei den unverschämten Frauen. In Kombination mit seinem süßen Staunen wirken seine verstolperten Wortattacken besser als jede Hypnose. Aber einmal, in einem Moment der Ernüchterung, muss die Kellnerin heimlich ein paar Tränen weinen, denn was wäre, wenn aus dem Film nichts wird, „und ich muss wieder Bier rumtragen“. Die Stripperin nimmt sie in den Arm.

Tatsächlich scheint alles zu scheitern. Als der Kameramann davonläuft, begegnet er jedoch auf der Flucht vor den Frauen einer glamourösen Lady, die ihn fragt, ob er von diesen verrückten Kameradieben gehört habe. Sie ist nämlich beeindruckt, bei deren Film würde sie gerne mitmachen. So wird erfahrbar: Ein guter Ruf kann nicht viel mehr sein als ein tolles Gerücht. Der Kameramann kehrt also schleunigst zurück zu seiner Außenseiterbande, und alle zusammen laufen dem Hamburger Jungen hinterher, der auf dem Heimweg zur Mutter glücklicherweise schon auf dem Münchner Bahnsteig eingeschlafen ist.

Hätte mir Martin Müller das VHS-Band von „Running Out of Cool“ nicht gegeben, hätte Lemkes Telefonnummer nicht darauf gestanden, hätte ich zusammen mit Christian Mrasek nicht Lemke 2001 in München besucht – Christian und mir wären vielleicht noch ewig Ausreden eingefallen und wir hätten unseren ersten Langfilm, „Die Quereinsteigerinnen“ (2005) nie gemacht. In einem Fußgängerzonencafé in Oberhausen bot Christian Lemke die Rolle des Bösewichts an. Ich hatte beim Drehbuchschreiben nicht daran gedacht. Als Lemke für seine beiden Szenen mit Nina Proll und Mario Mentrup ins Sauerland kam, im September 2003, da war er schon fiebrig wegen seiner eigenen „3 Minuten Heroes“, die kurz danach entstanden. In der Schnittphase unseres Films sprach er mir goldene Trostworte auf den Anrufbeantworter: „Cowboy! Das Tal der Tränen ist etwas, durch das man durchmuss. Film ist kein Mädchensport – kein klassischer Mädchensport.“ Als sowohl „3 Minuten Heroes“ wie „Die Quereinsteigerinnen“ auf dem Münchner Filmfest Premiere hatten, stahlen wir uns nach durchzechter Nacht aus der Hotelsuite hinaus und schlenderten durch einen vielversprechenden Münchner Sonnenaufgang.

Man wird mich also für befangen halten, wenn ich sage, Lemke sei der Größte seit Helmut Käutner und der Beste dieser Tage, aber so ist es. Das Bild, das schon zu Zeiten von „Acapulco“ gezeichnet wurde, wird endlos durchgepaust. „Rocker“, „Paul“ und „Amore“ werden ihre verdienten ersten drei Plätze in der Rangliste des deutschen Nachkriegskinos einnehmen, wenn das letzte Butterbrotpapier zum Durchpausen deutscher Filmhistorie in Fetzen geht. Aber wir, die Männer und Frauen des dritten Jahrtausends – eine Formulierung des verstorbenen Papstes –, wir fragen wollüstig, wann und wo der neueste Film von Lemke läuft.

Rainer Knepperges ist Schauspieler, Drehbuchautor und Regisseur und lebt in Köln, wo er 1990 den Filmclub 813 gegründet hat. In seinem ersten Langfilm „Die Quereinsteigerinnen“ (2005, zusammen mit Christian Mrasek) hat Klaus Lemke zwei Gastauftritte. Der Text ist ein Vorabdruck aus Brigitte Werneburg (Hg.): „Inside Lemke. Ein Klaus Lemke Lesebuch“. Mit Beiträgen u. a. von Michael Althen, Iris Berben, Dominik Graf, Claudius Seidl, Wolf Wondratschek. Köln 2006, Schnitt – der Filmverlag, 288 Seiten, 14,90 €, ab heute im Buchhandel