Einkauf für Schlafwandler

Schon zum Weihnachtsgeschäft soll in Berlin der Ladenschluss fallen. Händlerorganisationen sind begeistert. Kleinhändler aber sehen nur Kosten steigen, Verkäuferinnen fürchten um ihren Job

Von DOMINIK SCHOTTNER

An Madlen Walter* hat der Senat anscheinend nicht gedacht. Denn wenn das Abgeordnetenhaus noch vor dem Adventsgeschäft den Entwurf des Ladenöffnungsgesetzes annimmt, dann könnte Walter ihren Job verlieren. Weil der Supermarkt, in dem sie, nur wenige hundert Meter vom Checkpoint Charlie entfernt, arbeitet, dann vielleicht länger geöffnet sein wird – um „dem Standort Berlin als Einkaufs- und Tourismusmetropole Rechnung“ zu tragen, wie es beim Senat heißt.

Diese Rechnung ginge dann wohl auf Madlen Walters Kosten. Längere Öffnungszeiten bedeuten Schichtarbeit, und das „geht nicht. Ich habe drei Kinder“, sagt die Mittdreißigerin. Sie rammt einen Karton in den Mülleimer. Der Supermarkt ist jetzt, zur frühen Nachmittagszeit, fast leer. „Während der WM hatten wa sonntags offen“, sagt Walter, „für den Laden war dit jut, aber für mich schlecht.“

Der Senat will nichts anderes als einen Paradigmenwechsel: Schon bald sollen alle Geschäfte im Berlin sechsmal die Woche 24 Stunden die Türen offen halten dürfen. Der Gesetzentwurf von Verbraucherschutzsenatorin Heidi Knake-Werner (PDS) sieht zudem vor, den Sonntag als Verkaufstag freizugeben. „Theoretisch ist das so“, sagt Regina Kneiding, Knake-Werners Sprecherin, „aber in der Realität geht es um etwa zehn Sonntage pro Jahr, die verkaufsoffen sein sollen.“ Das sind vier vom Senat zu bestimmende und zwei von den Ladeninhabern individuell festzulegende Sonntage. Hinzu kommen die vier Adventssonntage. In diesem Jahr aber nur drei. Weil der vierte Sonntag auf Heiligabend fällt, bleiben die Geschäfte dann geschlossen, erklärt Kneiding.

Die Ausnahme von der noch gar nicht beschlossenen Regel ist bis zu den Händlern noch nicht durchgedrungen. „Das wussten wir nicht“, sagt Holger Lunau, Sprecher der Industrie- und Handelskammer (IHK) Berlin. „Ganz großer Unfug“ sei das.

Lunaus Ärger über einen Sonntag weniger im Verkaufskalender vermag seine Freude über den Gesetzentwurf aber kaum zu schmälern. Grundsätzlich begrüße die IHK die Freigabe, die Sonntagsregelung ist in Lunaus Augen sogar ein „sehr guter Vorschlag, weil sie dem Einzelhandel ermöglicht, zusätzliche Kaufkraft abzuschöpfen“. Das freilich widerspricht seiner Einschätzung, dass der „zu verteilende Kuchen durch längere Öffnungszeiten nicht größer“ werde. Auch würden die „wenigsten Geschäfte wohl wirklich bis Mitternacht geöffnet haben, weil die meisten Leute bis 21 Uhr einkaufen“, sagt Lunau. Der theoretische Rahmen, den das Gesetz schaffe, sei aber „eine große Chance für alle“, für Kunden wie für Angestellte und Ladeninhaber.

Dem Chef einer Fleischerei im Steglitzer Einkaufszentrum „Das Schloss“ will das nicht einleuchten. „Ich bin nur schwer zu überzeugen“, sagt er der taz. Doch das Center-Management werde wohl die Öffnungszeiten bis 22 Uhr ausdehnen. Und dann muss der Fleischer mitziehen „oder eben Vertragsstrafe zahlen“. Doch die Strafe ist höher als das Minus, das er sich von der Mehrarbeit erwartet. „Da muss ich dann wohl Personal verschieben“, knirscht es durchs Telefon. Dass durch die längeren Verkaufszeiten zusätzliche Arbeitsplätze geschaffen werden, hält er für „Quatsch.“ Denn: Wer kauft schon Wurst um drei Uhr morgens?

Andreas Splanemann, Sprecher der Gewerkschaft Ver.di, eher nicht. Auch er war mal in den USA nachts einkaufen: „In einem Wal-Mart. Das war gespenstisch. An der Fotoausgabe stand ein Rentner, der ganze Laden war leer.“ Spätestens seitdem ist er sich sicher: Eine Liberalisierung der Öffnungszeiten „ist nicht schön“. Anstatt neuer Jobs für Fachkräfte entstünde ein Markt von Billigjobs im Einzelhandel. 60.000 Menschen seien dort in Berlin beschäftigt, 70 Prozent davon Frauen.

„Was macht eine Alleinerziehende, die bei Karstadt bis 22 Uhr arbeiten muss?“, fragt Splanemann. Seine Antwort: „Jemanden suchen müssen, der auf die Kinder aufpasst. Soziale Kontakte vernachlässigen müssen.“ Und irgendwann vielleicht: den Job verlieren, weil so eine Billigkraft eben alles macht, sogar nachts arbeiten. Dabei „gewöhnt man sich an Nachtarbeit nie“, meint Splanemann. Schwere körperliche Schäden sei neben etwas Nachtaufschlag das Einzige, was man davon habe, meint der Gewerkschaftssprecher.

Sibylle Meisner* interessiert das alles nicht. „Wenn mein Mann keine Nachtschicht hat“ und ihr Supermarkt tatsächlich länger offen sein sollte, „dann werden wir das schon hinbekommen mit der Kinderbetreuung“, sagt sie. Wie Madlen Walter glaubt aber auch sie nicht an einen ökonomischen Erfolg der endlosen Öffnungszeiten. „An manchen Sonntagen ist hier kaum ein Kunde“, sagt sie, „wieso sollten wir dann rund um die Uhr aufmachen?“

*Namen geändert