Der Mensch, eine Kriegernatur

Ein Dozent der Münchener Bundeswehr-Uni irritiert mit Thesen über die „positiven Funktionen“ des Krieges. Militärhistoriker sieht Parallelen zu Ludendorffs „totalem Krieg“ und „Sozialdarwinismus“

AUS BERLIN KATHARINA KOUFEN

Es war an einem Junitag des Jahres 2000. Die Teilnehmer einer internationalen Management-Tagung lauschten in Brüssel dem Vortrag von Generalleutnant a. D. Jürgen Schnell, Dozent an der Münchener Bundeswehr-Uni. „Zur zukünftigen Rolle von Militärorganisationen“ hieß das Thema, und der Vortrag steht noch heute auf der Homepage der Uni.

Schnell hat seine Thesen, wie er selbst zugibt, „ein bisschen pointiert“ formuliert, um sein Publikum nicht mit Insiderdetails zu langweilen. Heute, vor dem Hintergrund der neuen Debatte über die Rolle der Bundeswehr, bekommt der Text eine neue Brisanz. Das zumindest finden Historiker wie Detlef Bald und Politiker wie der Grünen-Militärexperte Winfried Nachtwei.

Eigentlich geht es in dem Vortrag darum, welche Art von Konflikten die Menschheit in Zukunft zu erwarten hat und wie sie damit umgehen wird. In der Einleitung äußert sich der Ökonom und Generalleutnant a. D. Schnell allgemeiner zum Wesen des Krieges. Er stellt Thesen auf, These eins: Krieg hat Zukunft. „Wenn der Krieg von Anfang an zur Geschichte der Menschheit gehört, dann ist anzunehmen, dass der Krieg überwiegend positive Funktionen erfüllt. Wäre es nicht so, dann hätte die Evolution sicherlich längst dafür gesorgt, dass der Krieg als Phänomen verschwunden wäre.“ Weiter hinten heißt es: „Die Natur ist offensichtlich von A bis Z auf Wettbewerb angelegt, und Kriege sind ihrem Wesen nach spezifische gewaltsam ausgetragene Formen des Wettbewerbs zwischen sozialen Großgruppen. Worum wird konkurriert? Im Wesentlichen um Macht, Ressourcen und die Vorherrschaft der eigenen kulturellen Identität.“ Noch weiter hinten: „Der Krieg hat seinen Ursprung jedoch nicht nur in den Kosten-Nutzen-Kalkülen der Kontrahenten. Die eigentlichen treibenden Kräfte liegen tiefer. Es ist die Lust an der Macht und an der erfolgreichen Aggression.“

Der Historiker Detlef Bald, bis 1996 Direktor am Sozialwissenschaftlichen Institut der Bundeswehr, hält Schnells Vortrag für „einen ungeheuer großen Skandal“. Er sieht in den Formulierungen „ganz klar eine Kontinuität aus dem Denken von Ludendorffs totalem Krieg“, aus dem „sozialdarwinistischen Kampf der Nationen“. Bald: „Das ist die Denkart der Wehrmacht. Ich hätte gedacht, so etwas gibt es nur bei Rechtsextremen.“ Für Bald ein Beweis, dass sich die Bundeswehr seit 1990 „in einer Phase der Remilitarisierung befindet“.

Der Grünen-Verteidigungsexperte Winfried Nachtwei stößt sich vor allem an der „Wertfreiheit“, mit der Schnell über das Wesen des Kriegs referiert. „Das geht weit über das hinaus, was man unter historischer Bilanzaufnahme laufen lassen kann.“ Nachtwei sagt, er sei „überrascht und irritiert“. Er kenne Schnell als Militärexperten. „Eigentlich vertritt er keine Haltung, die Kriege beschönigt.“

Der Kölner Rechtsanwalt Detlef Hartmann nutzt Schnells Thesen sogar in einem Prozess gegen vier Friedensaktivisten, die wegen eines Anti-Bundeswehr-Plakats am Kölner Dom vor Gericht stehen. Für Hartmann ist klar: „Mit solchen Äußerungen eines Dozenten werden die Soldaten zur Tötungsbereitschaft erzogen. Dahinter steht die Auffassung, die neuen Aufgaben der Bundeswehr könnten nur mit der Entfesselung des Soldaten zum Krieger bewältigt werden.“

Der Historiker Jörg Calließ dagegen warnt vor vorschnellen Urteilen: Schnells Argumente seien durchweg nicht falsch, nur extrem einseitig dargestellt. „Ich würde das dennoch durch die Freiheit der Lehre gedeckt sehen.“ An der Bundeswehr-Uni seien die Dozenten „extrem frei“, ihre Meinung zu äußern. Davon profitierten auch die Professoren, die kritisch zur Bundeswehr stehen. Calließ: „Wer diese wissenschaftlichen Äußerungen politisch attackiert, macht den gleichen Fehler wie diejenigen Muslime, die Papst Benedikt Islamfeindlichkeit unterstellt haben.“

Und Schnell selbst? Fällt aus allen Wolken, als er erfährt, dass sein Vortrag als Beweis für Militarismus in der Bundeswehr verwendet wird. „Sonst finden meine Publikationen bei den Grünen Anklang, weil ich ihre Forderung nach Abschaffung der Wehrpflicht mit Zahlen belegen kann“, wundert sich Schnell, der Wert darauf legt, dass er aus politischen und historischen Gründen aber für die Beibehaltung der Wehrpflicht ist. „Was ich gesagt habe, war nicht besonders originell. All das zur Ausformung von menschlicher Aggressivität, das haben Verhaltenswissenschaftler schon vor mir gesagt.“ Als Wissenschaftler versuche er, die verschiedenen Erklärungsmodelle für Krieg zusammenzutragen. „Daraus leite ich meine eigene Sichtweise ab.“ Die sei „unbedingt friedensorientiert“.