Zerrspiegel der Gesellschaft

Der Berufswunsch „Soldat“ hängt von Herkunft und Bildung ab. Dass die Zusammensetzung der Bundeswehr repräsentativ für die Bevölkerung ist, gehört zu den großen Mythen, die von der Bundesregierung gepflegt werden. Kein Wunder: Sonst müsste man womöglich Konsequenzen ziehen

AUS BERLIN KATHARINA KOUFEN

Spricht man Abgeordnete der Regierungsfraktionen in Berlin auf die Zusammensetzung der Bundeswehr an, so lautet die Antwort: „Die Bundeswehr ist ein Spiegel der Gesellschaft.“ Punkt. Alles andere bitte nicht zitieren. Ein Spiegel der Gesellschaft – so soll es sein, denn als solcher wurde die Bundeswehr vor gut 50 Jahren erschaffen, und wenn alle nur fest daran glauben, dann wird aus dem Soll-Zustand womöglich ein Ist-Zustand.

Der tatsächliche Ist-Zustand zeigt: Vom „Spiegel der Gesellschaft“ kann keine Rede mehr sein. Fast die Hälfte der als tauglich gemusterten jungen Männer verweigern den Kriegsdienst und leisten stattdessen Zivildienst. Besonders krass ist das Missverhältnis an städtischen Gymnasien, wo manchmal ganze Abiturklassen verweigern.

Vor allem der „Berufswunsch Soldat“, also die Verpflichtung über den Grundwehrdienst hinaus, ist je nach Bildungsgrad unterschiedlich ausgeprägt. Das belegt eine Studie von Thomas Bulmahn, Leiter des Projekts Bevölkerungsbefragung am sozialwissenschaftlichen Institut der Bundeswehr in Strausberg: „Von den jungen Männern, die ein Gymnasium besuchen, erwägt nur jeder fünfte, Soldat zu werden. Bei denen, die eine Haupt- oder Realschule besuchen, ist der Anteil doppelt so groß.“

Verzerrt auch das Spiegelbild, wenn es um die geografische Herkunft geht: 40 Prozent der Wehrpflichtigen werden in Ostdeutschland gewonnen, auch 30 Prozent der Zeit- und Berufssoldaten stammen aus den neuen Bundesländern. Aus Bundeswehrkreisen heißt es, bis zu 60 Prozent des Offiziers- und 80 Prozent des Unteroffiziersnachwuchses kämen aus Ostdeutschland. Überproportional vertreten sind außerdem junge Russlanddeutsche – für die Bundeswehr ein Problem, da „ganze Züge nur noch russisch sprechen würden, wenn wir alle heimatnah einziehen würden“, wie SPD-Verteidigungsexperte Jörn Thießen berichtet.

Gleichzeitig sinkt das Bildungsniveau. Anfang Oktober lockerte die Bundeswehr die Eingangskriterien, damit mehr Bewerber den Einstellungstest bestehen. In Hintergrundgesprächen lassen die Verteidigungspolitiker schon mal ihrem Frust freien Lauf: Dass es immer schwieriger wird, Leute zu gewinnen, die auch nur annähernd den Anforderungen der Bundeswehr gerecht werden. Auch bei der Rekrutierung von Nachwuchs für die Eliteeinheit KSK würden Kriterien wie soziale Kompetenz und Allgemeinwissen von immer weniger Bewerbern erfüllt. Für die Zeitung will zumindest der Wehrbeauftragte der Bundeswehr, Reinhold Robbe (SPD), nur einen Satz autorisieren: „Es ist ein allgemeines Problem der Gesellschaft, dass das Bildungsniveau sinkt.“

Auch unter den Offizieren geht das Bildungsniveau zurück. Der Soll-Zustand: Jeder Offizier hat ein Fachstudium absolviert unter Einschluss eines gesellschaftswissenschaftlichen Begleitstudiums – so jedenfalls forderte es der damalige Verteidigungsminister Helmut Schmidt (SPD) schon vor gut dreißig Jahren, bevor Manfred Wörner in den 80er-Jahren zu viel Bildung bei Offizieren für überflüssig erklärte. Keine leitende Funktion also ohne fundierte Kenntnisse der deutschen Geschichte, so lautete einmal der hehre Anspruch. Der Ist-Zustand: Als die Bundeswehr 1999 solche Daten erhob, hatte nur noch gut jeder vierte Offizier, der von der Luftwaffe übernommen wurde, einen Hochschul- oder Fachhochschulabschluss.

Vom Spiegelbild der Gesellschaft zur Armee der Arbeitslosen: Je höher die Arbeitslosigkeit in einer Region, desto leichter fällt der Bundeswehr die Rekrutierung. Das erklärt auch den hohen Anteil von Soldaten aus Ostdeutschland. Mehr als ein Viertel der in der Studie befragten jungen Männer – Frauen, die zum Bund wollen, bilden immer noch eine absolute Minderheit – will sich deshalb als Soldat verpflichten, weil keine Chance auf einen anderen, besseren Ausbildungsplatz in Sicht ist.

Je geringer die Bildung, desto wichtiger sind Geldverdienen und die Sicherheit des Arbeitsplatzes. Junge Männer mit Abitur nutzen die Bundeswehr zum komfortablen Studium an einer der beiden Bundeswehr-Unis, geringer Qualifizierte melden sich für Auslandseinsätze, weil die gutes Geld bringen – bis zu 92 Euro Extrazulage pro Tag.

Wer den Ist-Zustand betrachtet, könnte auf die Idee kommen, Fragen zu stellen: Ob die Wehrpflicht mit ihrer angeblichen Wehrgerechtigkeit nicht ein Auslaufmodell ist? Ob eine Bundeswehr, die 35 Jahre lang am Harz auf den Russen wartete in der Gewissheit, dass der Verteidigungsfall in Form einer Atombombe sowieso nur eine Sache von Sekunden sein würde, heute am Hindukusch nicht völlig überfordert ist? Ob die Bundesrepublik Deutschland überhaupt ein ausreichend durchdachtes sicherheitspolitisches Konzept hat und wo die Grenzen für die Selbstverteidigung im Ausland liegen?

Die Oppositionsparteien Grüne und FDP haben zumindest auf die erste Frage ihre Antwort schon gefunden und fordern die Abschaffung der Wehrpflicht. Ebenso denken die Jugendorganisationen aller Parteien, weshalb der Abgeordnete Thießen die Wehrpflicht „bedauerlicherweise für ein Auslaufmodell“ hält, das es „in 15 Jahren nicht mehr gibt“. Schon jetzt zeigt sich, dass die Zustimmung zur Wehrpflicht umso höher ist, je älter die Befragten sind. Für diejenigen, die das Trauma des Zweiten Weltkriegs noch in ihrer Kindheit selbst oder über ihre verstörten Eltern miterlebt haben, bleibt der Mythos, die Armee sei ein „Spiegel der Gesellschaft“, offenbar nach wie vor tröstlich.