Weltgericht nimmt Arbeit auf

Vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag beginnt der erste Prozess: ein Vorverfahren gegen Milizenchef Thomas Lubanga aus dem Kongo, angeklagt wegen Einsatzes von Kindersoldaten

VON DOMINIC JOHNSON

Ein historischer Augenblick war es gestern in Den Haag, als vor dem Internationalen Strafgerichtshof das erste Verfahren seiner Geschichte begann. Thomas Lubanga, Milizenführer in der Demokratischen Republik Kongo, muss sich wegen der Rekrutierung von Kindersoldaten verantworten. Bis 28. November läuft ein Vorverfahren, bei dem Anklage und Verteidigung ihre Beweise präsentieren; danach entscheidet das Gericht innerhalb von 60 Tagen, ob es zum Prozess kommt. Schon jetzt steht damit allerdings erstmals ein mutmaßlicher Kriegsverbrecher vor einem weltweit zuständigen Kriegsverbrechertribunal.

Lubanga führte von 2000 bis 2003 in Kongos nordöstlichstem Distrikt Ituri an der Grenze zu Uganda die Union kongolesischer Patrioten (UPC), eine der wichtigsten Milizen in den ethnischen Konflikten, die Ituri damals ergriffen, während der Rest des Kongos im Krieg versunken war. Die Anklage, über deren Zulässigkeit jetzt entschieden wird, wirft ihm die Rekrutierung von Kindern unter 15 in den bewaffneten UPC-Flügel FPLC vor; sie hätten an Kampfhandlungen teilnehmen müssen. Als FPLC-Oberkommandant und UPC-Präsident habe Lubanga „letztendlich die Kontrolle über die Annahme und Umsetzung der Politik der UPC/FPLC“ gehabt und sei damit direkt verantwortlich. Der am 10. Februar 2006 ausgestellte Haftbefehl gegen ihn wurde am 17. März vollstreckt, als Lubanga, bereits seit März 2005 in Kongos Hauptstadt Kinshasa im Gefängnis, nach Den Haag überführt wurde.

Immer wieder betonen Menschenrechtler und Quellen im Strafgerichtshof, der Haftbefehl gegen Lubanga sei nur der erste im Kongo, weitere würden folgen – vor allem gegen Führer rivalisierender Milizen in Ituri. Geschehen ist bisher jedoch nichts, und die Anklage wird der Realität des grausamen Krieges im Kongo kaum gerecht, an dessen Folgen in den letzten zehn Jahren bis zu vier Millionen Menschen gestorben sein sollen. Kindersoldaten setzen alle Kriegsparteien im Kongo bis heute ein, selbst die neue Regierungsarmee.

Ituri war Schauplatz einiger der brutalsten Verbrechen des Krieges mit systematischen ethnischen Säuberungen. Im Jahr 1999 begannen Milizen der Völker der Hema und Lendu sich zu bekämpfen, aufgerüstet von ugandischen Generälen. Die suchten damit die Vorherrschaft über ein Gebiet, in dem Kongos größte Goldminen liegen und reiche Ölvorkommen vermutet werden. Im Laufe der Jahre rüsteten sich die Milizen auf und wurden lokale Stellvertreter des gesamtkongolesischen Machtkampfs zwischen der Regierung von Präsident Joseph Kabila in Kinshasa und den verschiedenen von Ruanda oder Uganda unterstützten Rebellengruppen.

Die Hema-Milizen, allen voran die UPC, verbündeten sich mit Ruanda; Lendu-Gruppen erhielten Hilfe von Kinshasa sowie ugandischen Militärs. Diese explosive Konstellation führte 2003 zu einer EU-Militärintervention unter französischer Führung – wobei Frankreich die UPC als Hauptfeind ansah. Auch danach kam es weiter zu Massakern und Vertreibungen, mit den Hema zuletzt mehr als Opfer denn als Täter. Es gibt aus Ituri Fotos von Milizionären, die abgeschlagene Köpfe ihrer Gegner hochhalten. Erst im Wahlkampfjahr 2006 ließ die Gewalt nach; Goldhandel und Politik haben Krieg als Karriereweg ersetzt.

Bis 2003 stellten Milizenführer aller Seiten in Ituri ihre Kriegsführung als Überlebenskampf ihrer Volksgruppe dar. Hema-Politiker beklagen immer wieder einen Völkermord gegen ihre Ethnie. Die UPC stellte Hema-Familien zeitweise vor die Wahl, entweder einen Sohn oder eine Ziege an die bewaffneten Gruppen abzugeben. So erklärt sich die massive Rekrutierung von Kindersoldaten in Ituri.

Dass nun nur ein einzelner Führer einer einzelnen Fraktion vor Gericht steht, ist vor diesem Hintergrund problematisch. Doch die politische Dynamik in Ituri hat sich verändert. Längst geht es den rivalisierenden Milizen eher um den gemeinsamen Kampf gegen Kongos Zentralgewalt und ihre Regierungsarmee, die mit UN-Unterstützung in den letzten zwei Jahren blutige Feldzüge gegen Rebellenhochburgen in Ituri geführt hat. Inzwischen sind einzelne Milizenführer der Region eng mit Laurent Nkunda verbündet, dem stärksten Rebellenführer Ostkongos.

Nichts davon ist in Den Haag Thema. Stattdessen sind die Ankläger in der Defensive, denn für sie ist es schließlich das erste Mal. Lubangas Verteidiger, der belgische Anwalt Jean Flamme, hält die Beschlagnahme zahlreicher Dokumente aus dem UPC-Hauptsitz in Bunia im Jahr 2005 für illegal. Denn UPC-Generalsekretär Jean Tinanzabo, gegen den sich diese Durchsuchungsaktion richtete, ist inzwischen aus der Haft wieder entlassen, nachdem ein kongolesisches Berufungsgericht im März seine Verurteilung zu 15 Jahren Gefängnis durch ein Gericht in Bunia auf ein Jahr reduzierte.

Es ist ein paradoxes Verfahren, mit dem der Strafgerichtshof seine Arbeit beginnt. Die UPC ist heute im Kongo eine legale politische Partei mit drei Direktmandaten im neu gewählten Parlament. Aber ihr Gründer steht nun als Topkriegsverbrecher vor Gericht. Und zu den Beweismitteln der Anklage gehört ein Video, das Lubanga zwar vor Kindersoldaten zeigt – aber bei einer Ansprache, in der er ethnische Gewalt verurteilt und zur Versöhnung aufruft.