Schlitzohriger Spitzbube

Heruntergekommene Berufe. Heute: der Postbote (gemeiner Zusteller)

Einst war er der Kurier des Zaren und schnitt Tartaren in Scheiben

„Afra“, sagte Effi. „Es muss doch schon neun sein: War der Postbote noch nicht da?“ „Nein, noch nicht, gnäd’ge Frau.“ „Woran liegt es?“ „Natürlich an dem Postboten: Er ist aus dem Siegenschen und hat keinen Schneid. Ich hab’s ihm auch schon gesagt, das sei die ‚reine Lodderei‘. Und wie ihm das Haar sitzt: Ich glaube, er weiß gar nicht, was ein Scheitel ist.“

So steht es in Fontanes „Effi Briest“ und der Postbote seitdem da und vor der Welt als Pflaumenaugust, Gurkenkönig und Liderling, als Vertreter eines Berufsstands, der zu den heruntergekommensten des Universums zählt. Neben dem Friseur, dem Fleischgrossisten, dem Makler und dem plastischen Chirurgen versteht sich. Doch während diesen Tagedieben das Strolch- und Lumpentum quasi wesenhaft auf der Festplatte sitzt, legte das Image der Briefträgers eine Talfahrt hin, die in der Geschichte menschlicher Tätigkeiten ohne Beispiel ist. Vor nicht mal 150 Jahren umgloste den Postboten die Aura von Glanz, Ruhm und testosterongestützter Leadership. Er trotzte dem Schnee und dem Sturm, dem Regen und der sengender Hitze, überwand Wüsten, Berge, Flüsse und Seen – und wenn er hoch auf dem gelben Wagen ins Horn stieß, begrüßte „sämtliche versammelte Jugend die heranklingelnde Post mit langhallendem Jubelgeschrei“ (Wilhelm Raabe, „Der Hungerpastor“). Er war der Kurier des Zaren und schnitt Tartaren in Scheiben, er war der Buffalo Bill Cody und tilgte im Dienste des Ponyexpress ganze Indianerstämme von der Landkarte. Er war der Marathonmann und allseits geschätzte „Postillon des Amour“. Als Geld- und Götterbote besonnte er Paläste und die Hütten des Prekariats.

Dann wurde der Briefträger Beamter, und es ging rasant bergab. Nun war er Hank Chinaski, Charles Bukowskis „Mann mit der Ledertasche“. Hank hatte immerhin noch Zeit, während der Arbeit „einen Kaffee zu trinken, Zeitung zu lesen, sich wie ein Mensch zu fühlen“. Aber der Frustrationspegel stieg. An einer seiner Routen „wohnte dieses stämmige junge Ding, das jeden Abend eine Eilsendung bekam. Sie stellte sexy Kleider und Nachthemden her und trug sie. So gegen elf Uhr abends rannte man die steile Treppe zu ihrer Haustür hoch, läutete und gab ihr den Eilbrief. Sie rang kurz nach Luft, etwa so: „OOOOOOOOooohhhhhhHH“, und sie blieb ganz dicht vor einem stehen, ganz dicht, und sie ließ einen nicht weggehen, während sie las, und dann sagte sie. „OOOOOooooooh, gute Nacht, VIELEN Dank!“ „Bitte sehr“, murmelte Hank und trabte davon, „mit einem Pimmel in der Hose, der einem Stier alle Ehre gemacht hätte“.

Von solchen Herausforderungen konnten deutsche Briefträger nur im Pornokino träumen. In der Sechzigerjahren hieß der Phänotyp Walter Spahrbier und war schon eine Gestalt des Jammers, ein pummeliger devoter Schrat in schlechtsitzender Uniform, den man zur Gaudi des Volkes in der ZDF-Show „Vergissmeinnicht“ ausstellte. Damals besaß er noch einen Rentenanspruch, lebenslangen Kündigungsschutz und damit so etwas wie Restwürde. Heute ist das Postwesen privatisiert und der Briefträger endgültig zum gemeinen Zusteller, zum rechtlosen, schwer unterversicherten Heloten herabgesunken, der einen Großteil seines Hungerlohns den Sklaventreibern der Zeitarbeitsfirmen in den Gierschlund werfen muss. Ganz zu schweigen von den natürlichen Feinden der Innung: dem Hund, der E-Mail und dem Postempfänger. Der Hund will ihm an die Hose, die E-Mail ans Leder und der Postempfänger ist seit dem Absterben der Spezies Hausfrau gemeinhin nie zu Hause, respektive macht gar nicht erst auf, weil er weiß, dass die ebenfalls komplett verlotterte Mitmenschheit längst keine Briefe, sondern nur mehr Mahnschreiben und Rechnungen verfasst.

Kann es da verwundern, wenn Meldungen wie diese die Republik erschüttern. Donauwörth: „Subunternehmer der Post unterschlägt 4.000 Briefe. Wie die Polizei mitteilte, gab der 47-Jährige zu, die Briefe geöffnet und nach Bargeld durchsucht zu haben.“ Oder diese aus Passau: „Aus Faulheit hat der Kurierfahrer Z. 500 amtliche Schreiben im Wald entsorgt und die ordnungsgemäße Zustellung trotzdem beurkundet.“ Im der Oberpfälzischen weiß man von „verschwundenem Bargeld, Konzerttickets oder Tan-Nummern fürs Online-Banking“. Im niedersächsischen Meppen wartet Rentner Uwe S. seit Saisonbeginn auf seine Fußballdauerkarte, die per Einschreiben verschickt worden ist. Wert: 450 Euro. „Immer wieder geht Post verloren“, klagt auch das Solinger Tageblatt, und die Leser fragen: „Wann hört das endlich auf?“ – Wir wagen zu prophezeien: Überhaupt nicht. Denn die Spitzbuben haben wenig zu befürchten, wie in der Neuen Westfälischen nachzulesen ist: „Ein ehemaliger Postzusteller aus Löhne sollte sich gestern vor dem Amtsgericht in Bad Oeynhausen verantworten, weil er Briefe in seiner Wohnung ‚gebunkert‘ hatte. Die Verhandlung musste allerdings aufgrund eines Formfehlers ausgesetzt werden. Schuld war die Post. Sie hatte dem Angeklagten die Vorladung und Anklageschrift sieben Tage zu spät zugestellt.“

MICHAEL QUASTHOFF