Unaufhaltsam undogmatisch

Die Säulen der Macht des Gottesstaates sind marode. Viele Iraner betrachten heute ihre Religion und ihre Tradition mit kritischem Blick

VON BAHMAN NIRUMAND

Während des Krieges gegen den westlichen Nachbarn Irak wurde am Eingang des Teheraner Zentralfriedhofs ein Brunnen gebaut, aus dem Tag und Nacht rotgefärbtes Wasser floss. Das Wasser symbolisierte das Blut der Märtyrer, die ihr Leben im Krieg gegen den Irak für den Islam geopfert hatten. Der Krieg sei ein heiliger Krieg, sagten die Ajatollahs, ein Kampf der gläubigen Muslime gegen das Heer des Teufels Saddam Hussein.

Aber mit jedem weiteren Kriegsjahr wurde die Überzeugungskraft solcher Parolen geringer. Es gab immer mehr Menschen, die zu zweifeln begannen, die nicht länger bereit waren, zugunsten einer ungewissen Glückseligkeit im Jenseits auf das diesseitige Glück zu verzichten. Und es war nicht nur der Krieg, der Unzufriedenheit schürte. Auch Korruption und Misswirtschaft, der Mangel an Planung und die internationale Isolierung hatten das Land ruiniert. Über drei Millionen Menschen, darunter hunderttausende von Wissenschaftlern, Ingenieuren, Ärzten und Technikern, waren ins Ausland geflüchtet. Und während die Gottesmänner großen Reichtum anhäuften, verarmte der Mittelstand, der sich unter dem Schah gebildet hatte. „Ist das der wahre Islam, den uns die Ajatollahs präsentieren?“, fragten sich immer mehr Menschen.

Die Frage ist mehr als berechtigt. Das System, das Chomeini aufgebaut hatte, basierte auf drei Säulen: einer sozialen, die die Situation der Entrechteten und Habenichtse zu verbessern versprach, einer ideologisch-politischen, die die Herrschaft der Geistlichkeit propagierte, und einer kulturellen, die die Feindschaft zum Westen schürte. Alle drei Säulen erwiesen sich schon bald als nicht tragfähig. Die versprochene Parteinahme für die Armen entpuppte sich nach dem Tod Chomeinis als pure Demagogie. Statt die Lebensverhältnisse der Mittellosen zu verbessern, hatten die Mullahs in die eigene Tasche gewirtschaftet. Aus den mittellosen Dorfpredigern waren Multimillionäre mit vollen Bankkonten im Ausland geworden.

Die zweite Säule der Islamischen Republik bildete die absolute Herrschaft der Geistlichkeit. Solange Chomeini, der Architekt dieses Fantasiegebildes, lebte, bot seine Persönlichkeit die Gewähr für ihren Fortbestand. Sein Nachfolger, Ali Chamenei, ist nicht einmal als Chomeini in Kleinformat zu bezeichnen. In Kreisen der schiitischen Geistlichkeit gilt er gar als drittrangig, seine theologischen Ansichten finden bei den Großajatollahs und an den theologischen Hochschulen keinerlei Akzeptanz. Auch in der Bevölkerung besteht der Eindruck, dass der Revolutionsführer den Radikalislamisten als Werkzeug dient.

Und auch die dritte Säule des Gottesstaates, die Feindschaft gegen den Westen, war von vornherein brüchig. Der Glaube, diese Feindschaft richte sich gegen imperialistische Ausbeutung und diene der Unabhängigkeit des Landes, erwies sich bald als Irrtum. Selbstverständlich hat der Westen im Iran wie in den meisten Entwicklungsländern viel Unheil angerichtet. Doch der Hass auf den Westen, den die Islamisten schürten, richtete sich gar nicht gegen dessen Erbschaft, sondern vielmehr gegen die Moderne, gegen die Zivilisation. Deshalb hatte diese Feindschaft auch weniger außenpolitische oder ökonomische als vielmehr kulturelle und innenpolitische Aspekte. Sie sollte als Waffe gegen alles, was auch nur den Anschein von Emanzipation und Fortschritt hatte und einem dogmatischen Islamismus entgegengesetzt war, eingesetzt werden. Kritische Kunst und Literatur, Zeitungen und Zeitschriften, Sport und Unterhaltung, Tanz und Freude, Demokratie und Menschenrechte wurden als westliche Dekadenz gebrandmarkt.

Die Säulen der Islamischen Republik sind marode und als Stützen unbrauchbar geworden. Auch die Monopolisierung der Macht durch Ahmadinedschad und seine Kampfgefährten wird diesen Verfallsprozess, der seit über einem Jahrzehnt erkennbar ist, nicht mehr rückgängig machen können. Die Beschädigungen sind zu weit fortgeschritten. Wie schon bei dem Volksaufstand gegen den Schah waren es wieder die Schriftsteller, die diese Beschädigungen als Erste aufzeigten und ihren Protest öffentlich zum Ausdruck brachten. Das ist kein Zufall. Traditionell genießen Dichter und Schriftsteller im Iran hohes Ansehen. Sie werden als das Gewissen der Nation empfunden und als moralische Instanzen verehrt. Man lernt ihre Gedichte auswendig, vervielfältigt und verbreitet ihre verbotenen Bücher, ihre Worte werden ernst genommen. Der Verband iranischer Schriftsteller, dessen Gründung auf das Jahr 1966 zurückgeht, hatte nach den langjährigen Verboten und Repressionen während der Schah-Zeit im Zuge der Revolution eine Wiedergeburt erlebt, war aber dann sehr bald von den islamistischen Machthabern erneut zum Schweigen gezwungen worden. Mehr als zehn Jahre sollten vergehen, bis der Verband aus dem Untergrund den Kampf um seine Legalisierung und offizielle Anerkennung allmählich wiederaufnahm. Im März 1991 veröffentlichte der Schriftstellerverband in der in Teheran erscheinenden Zeitschrift Gardun eine manifestartige Satzung, in der er sich und seine Mitglieder darauf verpflichtete, die uneingeschränkte Freiheit des Denkens und der Meinungsäußerung aller Individuen, politischen und ethnischen Gruppen zu verteidigen. Jeder habe das Recht, seinen eigenen Standpunkt zu äußern.

Das Regime ging in eine mittelbare Gegenoffensive und forcierte seine eigenen kulturellen Aktivitäten. Durch Gründung von kulturellen Einrichtungen und Unterstützung islamisch orientierter Zeitungen, Zeitschriften und Verlage sollte der zunehmende Einfluss freier Schriftsteller zurückgedrängt werden – eine Taktik, deren Folgen sich bald als zweischneidig erwiesen. Denn jetzt stieg die Nachfrage nach unabhängigen Autoren, die sich dann auch immer hörbarer zu Wort meldeten. Im Oktober 1994 veröffentlichten 134 Autoren unter der Überschrift „Wir sind Schriftsteller“ eine Erklärung, die nicht nur im Iran, sondern auch international großes Aufsehen erregte. Zu den Unterzeichnern gehörten die populärsten Autoren des Landes: der Poet Ahmad Schamlu und die Romanciers Mahmud Doulatabadi und Huschang Golschiri ebenso wie die spätere Friedensnobelpreisträgerin Schirin Ebadi.

Je massiver der Widerstand des Regimes wurde, desto mehr wuchs die Popularität der Autoren, sodass sich die Staatsführung gezwungen sah, zu den alten Methoden der Repression zurückzukehren. Kulturminister Chatami, der diese Politik nicht mittragen wollte, legte sein Amt nieder und musste anschließend miterleben, wie eine ganze Reihe von Schriftstellern Mordanschlägen zum Opfer fiel. Dennoch setzten die Schriftsteller ihren Kampf um Meinungsfreiheit und um die Anerkennung ihres Verbandes fort. Und sie hatten Erfolg. Mit der Regierungsübernahme Chatamis gelang es ihnen schließlich, die Lockerung der Zensur und eine praktische Duldung ihres Verbandes durchzusetzen. Nach der Machtübernahme Ahmadinedschads und der Radikalislamisten wurden die Freiräume zwar zum Teil wieder aufgehoben und die Zensurmaßnahmen wieder verschärft. Dennoch hat der beharrliche Kampf der Schriftsteller Früchte getragen und einen unschätzbaren Beitrag zur Entwicklung der iranischen Zivilgesellschaft geleistet.

Die innere Modernisierung des Gottesstaates betrifft auch die Frauen. Die Tatsache, dass sich Frauen in der Islamischen Republik weit stärker emanzipieren konnten als zur Zeit des Schah-Regimes, ist auf den ersten Blick überaus erstaunlich, da der Begriff „Gleichberechtigung“ in der Rechtsauffassung der Islamisten bekanntlich keinen Platz hat. Dieser seltsame Widerspruch liegt darin begründet, dass die Islamisten auf die gesellschaftliche und politische Teilhabe von Frauen angewiesen waren. Schon zu den Zeiten des Volksaufstands hatten Frauen massenhaft an Demonstrationen teilgenommen und die Flugblätter und Tonbänder mit den Botschaften Chomeinis verteilt. Sie leisteten einen unverzichtbaren Beitrag zum Erfolg der Revolution. Auch später, während des Krieges, waren ihre Dienste hinter der Front unentbehrlich. Damit aber hat die Islamische Republik Frauen aus dem privaten, familiären Dasein herausgeholt und aus Hausfrauen und Müttern gesellschaftliche Subjekte gemacht. Kein Wunder, wenn diese Frauen nun auch immer lautstärker nach Rechten verlangten, die ihrer gesellschaftlichen Rolle entsprachen.

Zu solchem Entgegenkommen war die islamische Obrigkeit selbstverständlich nicht bereit. Im Gegenteil. Die ultrakonservative Auffassung der Islamisten von der Rolle der Geschlechter machten Frauen von Anbeginn zur Zielscheibe des islamischen Gottesstaats. Von der neuen Macht beauftragte oder auch selbsternannte Sittenwächter achteten peinlich genau darauf, dass Frauen zumindest ihre Haare mit einem Kopftuch und die Konturen ihres Körpers mit einem langärmligen, bis zu den Knien reichenden Gewand bedeckt hielten. Zuwiderhandlungen wurden hart bestraft ebenso wie jegliche nicht durch die Ehe legitimierte körperliche Annäherung zwischen den Geschlechtern. Zahlreiche Frauen wurden wegen Ehebruch gesteinigt. Viele Berufe wie der des Richters oder des führenden Politikers blieben Frauen verschlossen. Im Familien-, Sorge-, Erbrecht und dergleichen sind Frauen gegenüber Männern zum Teil erheblich benachteiligt.

Für die Frauen jedoch waren solche Diskriminierungen nicht länger hinnehmbar. Sie begehrten auf und führen bis heute einen bewundernswerten Kampf um ihre Rechte. Allein der Feldzug gegen die Kleiderordnung war und ist schwierig, eine Herausforderung, die die Frauen schrittweise und täglich zu meistern haben.

Dass Frauen gegen Ungleichheiten ankämpfen, ist ein qualitativer Sprung, wie er in dieser Intensität in keinem anderen islamischen Land stattgefunden hat. Inzwischen gibt es im Iran mehr als hundert regierungsunabhängige Frauenorganisationen und ebenso viele Zeitschriften und Internetseiten, die sich um die Belange der Frauen kümmern. Bemerkenswert daran ist auch, dass sich an solchen Aktivitäten nicht mehr nur laizistisch orientierte, sondern mindestens ebenso stark Frauen aus dem islamischen Lager beteiligen. Es gibt in der Frauenbewegung sogar eine Strömung, die sich als „islamische Feministinnen“ bezeichnet.

In einem Interview mit der taz antwortet die im Koordinationsrat für das Frauennetzwerk aktive Autorin Mahbubeh Abbasgholizadeh auf die Frage, was den islamischen Feminismus vom europäischen unterscheidet: „Der Unterschied liegt in erster Linie nicht in den konkreten Forderungen, sondern in der Weltanschauung. Ich glaube an Gott, verrichte täglich das Gebet und möchte zugleich alle Rechte genießen, die einem freien Individuum zukommen.“

Zwar sei es richtig, dass viele Ungleichheiten ihre Ursache im Islam hätten. „Aber wenn ich sie ablehne, muss ich doch deswegen nicht meinen Gott und meinen Glauben aufgeben. Wir müssen den Koran neu lesen und interpretieren. Das ist auch der Standpunkt der modernen islamischen Aufklärer. Sie lesen den Koran mit einem kritischen Blick, lassen sich von der Vernunft leiten und berücksichtigen die Erkenntnisse der Moderne. So betrachtet ist der islamische Feminismus so modern wie der nichtislamische.“

Viele Frauenrechtlerinnen im Iran sind der Auffassung, dass es nicht die Religion ist, die der Gleichberechtigung in erster Linie im Wege steht, sondern das patriarchalische Gewohnheitsrecht. Und sie folgern daraus, dass neben dem Islam vor allem die orientalische Kultur und Tradition problematisiert werden müssten. Diese Auseinandersetzung hat den Frauen zwar längst noch nicht die Gleichberechtigung gebracht, sie hat aber die Rolle der Frauen im Iran schon merklich verändert. Heute studieren an iranischen Universitäten mehr Frauen als Männer. Trotz aller Repressionen: Eine Rückkehr zu alten Zeiten ist nicht mehr denkbar.

BAHMAN NIRUMAND, Jahrgang 1936, schreibt regelmäßig für die taz über die Innen- und Außenpolitik des Irans. Der Text ist ein Auszug aus seinem bei Kiepenheuer & Witsch erschienenen Buch „Iran – die drohende Katastrophe“, 224 S., 16,90 Euro