Das Rot und das Gelb des Fortschritts

Verstehen, was sichtbar ist: Ausgerechnet nach Brazzaville und Kinshasa reiste eine Gruppe von Künstlern, um diesen Erkenntnisansatz zu überprüfen. Dabei ist mit „Brakin“ ein faszinierendes Buch über die kongolesischen Hauptstädte herausgekommen, das Landkarten des öffentlichen Lebens liefert

VON KATRIN BETTINA MÜLLER

„Cette parcelle n’est pas à vendre“ – diese Parzelle ist nicht zu verkaufen. Wie in Notwehr, als ein letztes Mittel der Verteidigung, schreiben sie es an die Wand des Hauses: Kinder zum Beispiel, deren Vater gestorben oder weggezogen ist – und nun versucht ein Onkel, ihr Haus zu verkaufen. Fast überall in dem ausgedehnten Gebiet der beiden Städte Kinshasa und Brazzaville ist der belgische Künstler Kobe Matthys auf diese Schrift an der Wand gestoßen und hat ein Inventar davon angelegt. Es sind die Spuren vom Bürgerkrieg und von der Reibung zwischen alter und neuer Rechtsprechung, die sich in den unklaren Besitzverhältnissen niederschlagen.

Das Inventar ist Teil des Buches „Brakin“ geworden, das von Brazzaville und Kinshasa als den zwei Hauptstädten der Republik Kongo (Kongo-Brazzaville) und der Demokratischen Republik Kongo erzählt. „Brakin“ ist vieles zugleich: Dokumentation eines Kunstprojektes, ein verwirrender Stadtatlas, Reisebericht und vor allem die Tür zur Begegnung mit einem Alltag von Menschen, die sonst fast nur aus der Perspektive der Politik wahrgenommen werden.

Kobe Matthys, der sich unter dem Künstlernamen „Agency“ auf juristische Fragestellungen spezialisiert hat, gehört zu einer Gruppe von sieben Fotografen und Architekten aus Belgien und Deutschland, die 2005 zweimal für je drei Wochen nach Brazzaville und Kinshasa fuhren. Initiator war der Architekt Wim Cuyvers als „advising researcher“ an der Jan van Eyck Academie in Maastricht, die das Projekt unterstützte. Cuyvers Ansatz der Stadterkundung scheint einfach: Was erfährt der Fußgänger, was verrät ihm der öffentliche Raum. Wobei Cuyvers in einem Essay gleich am Anfang klarstellen muss, dass schon der Begriff „öffentlicher Raum“ vor Ort stetig zerbröselte. So hat er zum Beispiel die Schilder fotografiert, die für privat betriebene und bewachte Friedhöfe werben. Zusammen mit Flüchtlingscamps markieren sie die Ränder der Stadt ebenso wie die „digital hotels“, in denen Puffs und Videosexshops untergebracht sind. Entsprechend heißt eine der Karten im Buch: „Edges of the city. Conglomerats of new cemetries, refugee camps and digital hotels“.

Die Karten ergänzen das Bildinventar. Das dichteste innerstädtische Konglomerat bilden die Häuser des Diamantenhandels, gefolgt von der etwas weiteren Streuung der UN Agencies und UN Peacemaking Mission Bases (Monuc), die die Berliner Fotografin Tina Clausmeyer aufgesucht hat. Zwischen die Bilder der Gebäude, die von der UN genutzt werden, hat Clausmeyer leere Bildfelder gesetzt, stellvertretend für all die nur den Beteiligten bekannten Punkte, an denen sie sich im Falle einer Evakuierung sammeln müssen. Sie spielen immer dann eine Rolle, wenn wieder, wie zuletzt nach Bekanntgabe der Wahlergebnisse, schwer durchschaubare militärische Bewegungen die Stadt verunsichern. Die leeren Felder deuten auf eine geheime, nicht lesbare Topografie, die dennoch lebenswichtig werden kann.

Die Farben der UN sind Blau und Weiß, die Farben der Telefongesellschaften sind Gelb und Rot. Ihnen sind Sabine Müller und Andreas Quednau gefolgt, die zusammen das Architekturbüro Smaq betreiben. In den „Maison de communication“ kann man nicht nur Telefoneinheiten kaufen, sondern oft auch alles andere; der Verkauf von Prepaid-Karten ist in einer Stadt, die über nur 18.000 Festnetztelefone bei mehreren Millionen Einwohnern verfügt, ein vielversprechender Einstieg ins Geschäftsleben. Die „Maison de communication“ bekommen das Rot und Gelb, mit dem sie ihre Häuser streichen, als Mittel der Corporate Identity von der Telefongesellschaften zur Verfügung gestellt. Andere, ohne Lizenzen, ahmen die Farben der Geschäfte nach, sozusagen den Anstrich von Wachstum und Fortschritt.

Smaq haben auch eine andere Spur aufgenommen, die des Small-portions-Handels. Je weiter von den kolonialen Stadtkernen und Militärposten sie sich entfernten, desto kleiner werden die Päckchen: eine Viertel Dose Tomatenmark oder 25 Gramm Nudeln. Was kann da bloß der Gewinn sein, fragt man sich, und wie viel Arbeit in dieser Handelskette steckt, in der nie über den unmittelbaren Tagesbedarf hinaus eingekauft werden kann.

Der öffentliche Raum ist der der Habenichtse und Besitzlosen, resümiert Cuyvers. Kristien van den Brande hat Zitate der 130 NGOs gesammelt, die sich professionell den Kindern widmen, die auf der Straße leben. Sie hat in leer stehenden Häusern und auf einem Friedhof fotografiert, wo Grabplatten und Steine von Lebenden bewohnt werden; sogar von äußerst lebendigen Frauen und Kindern.

Da aber wird die Lesbarkeit des Sichtbaren schwierig, man gerät in den Bereich der Spekulativen und des Voyeurismus. Van den Brande hat deshalb neben die Bilder eine Geschichte gestellt, in der sie versucht, die Rolle von Beobachter und Beobachtetem zu vertauschen. Sie stellt sich vor, was ein Junge, der sie bei ihren Wegen über die Plätze der Armen und Käuflichen beobachtet, über sie denkt. Wie missverständlich ihr Interesse erscheinen kann. Es ist ein verstörender Text, der nicht zuletzt auch die Grenzen des Kunstprojekts und der Lesbarkeit des Sichtbaren aufzeigt: Dem Besucher, der für einige Wochen kommt, bleiben viele Codes verschlossen.

„Brakin. Brazzaville – Kinshasa. Visualising the visible“. Verlag Lars Müller Publishers, 26 € (zu beziehen über www.lars-mueller-publishers.com und www.janvaneck.nl)