Neue Hülle für Tiere in Alkohol

1945 krachte eine Bombe durch die Insektenabteilung des Naturkundemuseums. Seither liegt der Ostflügel in Trümmern. Gestern begann der Wiederaufbau. Das Haus und seine Sammlung wollen die Evolution in einer neuen Dimension vermitteln

VON ROLF LAUTENSCHLÄGER

Wenn Ruinen nur noch funktionslose Wächter der Geschichte sind, wird es Zeit, sie zu beseitigen. Genau dies geschieht jetzt beim Wiederaufbau des zerstörten großen Ostflügels des Naturkundemuseums an der Invalidenstraße in Mitte – aber nicht durch Abriss, sondern durch eine Neubelebung. Gestern Mittag begann mit dem ersten Spatenstich durch den Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) und einem Festakt die neue Zeitrechnung für das Haus der Evolutionsforscher, -biologen und Paläontologen samt toter Tiere und Pflanzen. Deren Erinnerungswert ist wichtiger und bedeutsamer als der ausgebrannter Gemäuer.

Über 60 Jahre, von 3. Februar 1945 bis heute, lag der östliche Museumsflügel, von Gestrüpp überwuchert, im Schatten der Invalidenstraße. Der vom Krieg zerstörte Gebäudeflügel geriet in Vergessenheit, auch wegen der spektakulären Saurierskelette im Hauptgebäude. Er war ein letztes skurriles Rudiment, ein quasi Denk- und Mahnmal an die Bombennächte und die Vernichtung von Kultur aus Zeiten der Berliner Ruinenlandschaft, die sich seit dem Fall der Mauer aufgelöst hatte.

Wenn der 30 Millionen Euro teure Wiederaufbau 2009 fertig gestellt sein wird, bleibt dort von der Berliner Ruinenseligkeit kein Körnchen übrig. Der lange dreistöckige Baukörper aus dem Jahr 1880 wird komplett renoviert – nicht nur restauriert. Zwar wird die vorhandene Bausubstanz erhalten. Aber hinter den Resten der historischen Fassade entsteht nach dem Entwurf der Architekten Diener & Diener (Basel/Berlin) auf 5.000 Quadratmetern ein neuer Museums-, Ausstellungs-, und Sammlungstrakt mit Magazinen und Forschungseinrichtungen.

Neu an dem Konzept ist etwa, dass die Besucher nicht mehr von den Sammlungsräumen getrennt durch die prähistorischen Bestände aus präparierten Tieren und Pflanzen wandeln. Stattdessen gestattet ihnen das offene Raumprogramm Einblicke in die Sammlungen und Magazine. Neu ist auch, dass die Ausstellungsflächen ausgeweitet werden und – neben dem Bund – der Mitfinanzier des Wiederaufbaus, die Humboldt-Universität, die Forschungs- und Laboreinrichtungen gemeinsam mit dem Museum nutzen kann. Eine Viertelmillion in Alkohol eingelegte Präparate – von 25 Millionen Sammlungsstücken des Naturkundemuseums insgesamt – wird dort untergebracht sein. Mit dem Mitte 2007 fertig gestellten sanierten Haupttrakt und der spektakulären Saurierhalle für 18 Millionen Euro besitzt Berlin dann das wohl bedeutendste Naturkundemuseum Europas und eine museale sowie wissenschaftliche erstklassige Evolutionsinstitution.

Reinhold Leinfelder, seit 2005 Direktor des Naturkundemuseums, hat die Sanierung und die jetzt begonnene Erneuerung des Hauses nicht nur zügiger vorangetrieben als seine Vorgänger. Seine Arbeit steht auch für den zukünftig „offenen“ Charakter des Museums und den geplanten Wandel in der wissenschaftlichen und musealen Ausrichtung des Naturkundemuseums. Statt verstaubter Skelette ist nach der Wiedereröffnung angedacht, die Präparate zu inszenieren und die Evolution nachvollziehbar und erlebbar zu machen.

Hinzu kommt, dass beim neu aufgebauten Ostflügel auch eine neue Technik ins Haus mit einzieht, die ganz wesentlich die Sicherheit und die musealen Möglichkeiten verbessert. Als 1945 die Bombe durch die Insektenabteilung und in den Anatomischen Saal donnerte, war der Brand deshalb so verheerend, weil die in hochprozentigen Alkohol eingelegten Stücke die Explosion multiplizierte. In Zukunft wacht über den Präparaten und den leicht brennbaren Alkohol ein neuer Brandschutz, der die Raumtemperatur geringer hält und bei Feuergefahr die alkoholischen Dämpfe einsaugt. Diese Technik ermöglicht es, die Besucher durch Ausstellungen mit Einblick in die Sammlungen zu leiten.

Klaus Wowereit sagte gestern, dass „trotz der Finanzknappheit in Wissenschaft investiert“ werde. Warum sich Berlin 61 Jahre Zeit für die Sanierung und Rekonstruktion des Naturkundemuseums gelassen hat, sagte der Regierende nicht. Sei’s drum: Wenn der vierflügelige, neorenaissancistische Bau aus dem 19. Jahrhundert wieder geöffnet sein wird und die Kinder und vielen Schulklassen vor dem Urvogel Archäopteryx und dem Brachiosaurus mit seinen riesigen, Furcht einflößenden Zähnen zittern, wird das vergessen sein.