110 Quadratmeter Belohnung

Scheich Zayed City im Norden des Gaza-Streifens ist eine Siedlung für die Familien von Märtyrern, gebaut mit Geld aus den Vereinigten Arabischen Emiraten. Während die Kämpfer in der palästinensischen Gesellschaft wie Popstars verehrt werden, müssen die Angehörigen mit den Folgen ihrer Tat leben

Aus Scheich Zayed City JULIA THERES HELD und GEORG CADEGGIANINI

Wäre da nicht dieses Video, Halima al-Masri würde die Wohnung ihrer Söhne wohl gar nicht betreten. „Es ist, als schrien diese Wände heraus, was wir verloren haben“, sagt die 47-Jährige. Zusammengekauert hockt sie auf Schaumstoffmatratzen und starrt auf den Bildschirm. Bestimmt hundertmal hat sie das Video schon gesehen, die letzten Bilder von ihrem Sohn: den Koran in der einen Hand, die Panzerfaust in der anderen, hinter ihm die Fahnen des Islamischen Dschihad – das Bekennervideo der militanten Organisation auf einer DVD, die überall auf den Märkten von Gaza erhältlich ist. Immer wieder verzerrt die billige Aufnahme das Gesicht des 18-Jährigen, bricht sie den Ton seiner Stimme. „Ich bin euer Dschihad führender Sohn“, wendet er sich an die Familie. „Ich bete zu Gott, dass ihr stolz auf mich sein werdet.“

Scheich Zayed City: eine moderne Wohnanlage, nicht mehr als fünf Stockwerke, freundliches Ocker an der Außenwand, im Hof wächst Hibiskus. Geziegelte Simse sind über die Fenster gemauert, dazwischen graue Rundbögen. Hier wohnen die Familien der Märtyrer. Mütter, deren Söhne sich in Tel Aviv in die Luft gejagt haben, Männer, deren Brüder bei einem Feuergefecht angeschossen wurden, sogenannte Rumpffamilien, deren männliche Angehörige in Israel im Gefängnis einsitzen. Im Hof lugt ein zartes Pflänzchen aus dem sandigen Boden, Oleander. Um ihn zu schützen, hat der Hausmeister aus mehreren Rollen Stacheldraht eine Bannmeile gebaut.

Gebäude 42, 5. Stock links, Wohnung 402: Über dem Türspion klebt ein Aufkleber, nicht größer als eine Visitenkarte. Darauf richtet ein Vermummter seine Panzerfaust auf den Besucher: „Mit dem Blut der Märtyrer werden wir den Feind aus Gaza vertreiben.“ Hinter der Tür wohnt Dschelal Scharif. Beige Hose mit Bügelfalte, freundliche Augen, grauer Schnauzer. Scharif ist der Bürgermeister von Scheich Zayed City. Scheich Zayed, der vor zwei Jahren verstorbene erste Präsident der Vereinigten Arabischen Emirate, hat die Stadt bezahlt: 71 Gebäude, 736 Wohnungen, jede exakt gleich geschnitten, drei Zimmer, ein Klo, ein Bad, eine Küche. Insgesamt 110 Quadratmeter. „Diese Stadt ist ein Geschenk an die Palästinenser und ihre Kämpfer“, sagt Scharif. Schule, Bibliothek, Moschee – alles geschenkt. Keiner der 5.000 Einwohner zahlt Miete, seit drei Jahren sind alle Wohnungen belegt. Wer hier einziehen darf, erklärt Sharif, das entscheide eine vom Gönner eingesetzte Kommission. Bedingung für die Berücksichtigung einer Bewerbung sei Armut. Priorität aber habe, wer sein Leben dem Kampf gegen Israel verschrieben hat. Etwas mehr als ein Drittel der Bewohner seien einfach nur arm, sagt Scharif. Die anderen haben jemanden in der Familie, der sich verdient gemacht hat. Der gefangen, verstümmelt, getötet wurde.

Gegenüber der Bürgermeisterwohnung, dort, wo die Außenmauer mit Plakaten von Märtyrern tapeziert ist, wohnt Dschamal al-Dura. „Mein Mann ist der berühmteste Kämpfer der Stadt“, sagt seine Ehefrau Nibal. „Und dabei lebt er sogar noch.“ Zum Helden wurde Dschamal al-Dura am 25. Oktober 2000, in der vierten Woche der zweiten Intifada. Es war erst ein paar Tage her, da hatte Dschamal seinen zwölfjährigen Cousin beerdigen müssen. Die Bilder waren um die Welt gegangen: Ein französisches Fernsehteam hatte gefilmt, wie der kleine Mohammed in panischer Angst hinter eine Blechtonne kriecht, in den Armen seines Vaters Schutz sucht und trotzdem im Kugelhagel stirbt. In den arabischen Medien gelten diese Bilder noch heute als Beweis für die Brutalität Israels, obwohl ihre Authentizität umstritten ist.

Gerade hatte Dschamal die verzweifelte Mutter besucht. Niedergeschlagen ließ er sich in den Sitz des Autos fallen und nahm die palästinensische Flagge vom Armaturenbrett. Auf einmal durchzuckte es ihn: „Diese Fahne soll wehen“, sagte sich der 18-Jährige. Aber nicht irgendwo, sondern „mitten unter denen, die unser Land besetzt halten, die unser Leben zerstören“.

Zusammen mit seinem Freund Raed kletterte Dschamal über die Mauer von Netzarim, einer jüdischen Siedlung südlich von Gaza-Stadt. Es war Freitagnachmittag, die Juden bereiteten sich auf den Sabbat vor. Dschamal wand sich durch Stacheldraht, huschte an israelischen Soldaten vorbei. Sein Ziel: Die israelische Fahne auf dem Wachturm der Siedlung. Erst als er bereits oben war, bemerkten ihn die Soldaten und eröffneten das Feuer. Trotz zweier Streifschüsse konnte Dschamal die israelische Fahne herunterreißen. Eine dritte Kugel bohrte sich in seinen rechten Oberschenkel. Dschamal fiel. Sein Freund raffte ihn auf, stützte ihn, schleifte ihn durch den Sand. Zusammen hängten sie die palästinensische Flagge noch in den Stacheldraht. Als Dschamal auf die andere Seite gehievt wurde, verlor er das Bewusstsein – und seine Beute, die israelische Flagge.

„Aber der Ruhm bleibt. Allah sei Dank, dass ich es geschafft habe“, sagt Dschamal. Seine Augen blitzen, immer hellwach. „Nicht nur in Scheich Zayed City kennt und respektiert mich jeder.“ Respekt ja, auch zuvorkommende Behandlung – aber Arbeit? Dschamal zögert, blickt auf den Boden. Oft habe man ihm Hoffnungen gemacht. Soldat wäre er gerne geworden oder Polizist. Aber es ist nie etwas daraus geworden. Er zeigt seinen vernarbten Oberschenkel. „Die Wunden haben mir letztlich nichts gebracht. Außer einer Wohnung unter Fremden.“

Ein paar Kilometer weiter, in Beit Hanun. Halima al-Masri ist froh, die Wohnung ihrer Söhne wieder verlassen zu haben. Noch ein paarmal habe sie das Video angeschaut, dann habe ihr Sohn sie heimgebracht, erzählt sie. Hierher, an den Ort, den sie noch immer ihr Zuhause nennt. Sie schabt mit dem Fuß über den sandigen Boden, auf dem einst ihr Haus stand. „Das hier ist alles, was ich noch habe.“

Zwei Zelte, schwere, graue Planen, von Schnüren gehalten und mit altem Wellblech an der Seite verkleidet: das Zuhause der noch immer zehnköpfigen Familie. Vielleicht der Ort in Gaza, der die Entscheidung al-Masris besonders auf die Probe stellt. Beinahe täglich feuern militante Palästinenser von hier aus Kassam-Raketen auf das nur wenige Kilometer entfernte Israel. Als Antwort fallen israelische Granaten, lassen den Boden erbeben. Vor zehn Tagen erst ist die israelische Armee wieder in den Ort einmarschiert, hat zahlreiche Häuser in Schutt und Asche gelegt, mehr als 50 Palästinenser getötet, darunter 16 Zivilisten. Einen Tag nach dem offiziellen Ende der Operation „Herbstwolken“ sterben unter Granatenbeschuss 19 Zivilisten, davon 8 Kinder und 7 Frauen. Der israelische Ministerpräsident Ehud Olmert bedauert den Zwischenfall, macht aber die Palästinenser und ihr tägliches Kassam-Feuer dafür verantwortlich.

Früher hätten sie hier ein Haus gehabt, erklärt Halima al-Masri und zeigt auf den Staub. Drei Stockwerke. Die ganze Familie habe hier gelebt. Ihr Mann, Samir, der als Küchenhilfe für die Israelis arbeitete, sie selbst und ihre vierzehn Kinder. Heute sei die Familie zerrissen: Die Söhne sind nicht wie geplant und in Gaza üblich mit ihren Frauen in die oberen Stockwerke gezogen, sondern in die Scheich-Stadt, ein paar Kilometer westlich, viel zu weit weg. Die beiden Töchter, erst fünfzehn und sechzehn Jahre alt, sollen jetzt verheiratet werden. Das sei besser für sie, als weiter hier in den Zelten zu wohnen.

Der Tag, der ihr ganzes Leben veränderte, ist für Halima al-Masri nicht der 22. November 2002, der Tag, als ihr Sohn auf einmal nicht mehr auftauchte, als er auf seinem Handy nicht mehr zu erreichen war und als im Radio von dem Anschlag auf ein israelisches Militärboot berichtet wurde. Zwei Männer seien es gewesen, die versucht hätten, das Boot in die Luft zu sprengen, und dabei selbst ums Leben kamen.

„Gestorben ist mein Sohn bei dem Anschlag“, sagt Halima al-Masri. „Verloren habe ich ihn erst, als sie unser Haus zerstörten.“ Es ist der 12. Januar 2003, abends um halb zehn, als vor dem Haus der al-Masris Panzer und Bulldozer auffahren, als das grelle Licht der Helikopter den dunklen Abendhimmel durchschneidet. „Mein Mann und die Söhne waren in der Moschee zum Abendgebet“, sagt Halima al-Masri. „Ich habe die Mädchen gepackt, die zwei Kleinen auf den Arm genommen und bin nur noch gerannt.“ Stundenlang bleiben die Soldaten am Haus, reißen mit Bulldozern Außenwände ein, positionierten Plastiksprengstoff in den Räumen. Dann: eine Explosion, viel Rauch und Staub.

Halima al-Masri hat sich auf einen Klappstuhl gesetzt, mitten auf den lehmigen Boden, dort, wo früher das Wohnzimmer der Familie war. Dass man sie richtig versteht, ist ihr wichtig. Mühsam dreht sie sich, zeigt in verschiedene Richtungen, erklärt, was da alles einmal gestanden hat. „Seit diesem Tag habe ich nichts mehr, was Schahid gehört hat, was mich an ihn erinnert“, erklärt sie. Die Mutter nennt ihren Sohn nicht bei seinem Namen. Sie nennt ihn Schahid: Märtyrer.

Als die Israelis weg waren“, sagt sie, „bin ich sofort hingerannt, um nach etwas zu suchen: Kleidern oder irgendetwas. Aber es war alles verbrannt.“ Ein einziges Foto konnte sie aus den Trümmern retten. Es zeigt Mohammed mit seinem jüngeren Bruder. Die Ränder sind verbrannt. Verlassen will Halima al-Masri diesen Ort trotzdem nicht. Notdürftig hat sich die Familie eingerichtet. Eine Mauer haben die Panzer verschont. Daran lehnen jetzt Klappstühle, ein kleiner Tisch: die Küche. Wassertanks stehen hier, in einer Plastikwanne stapelt sich das Geschirr. Wo früher Mohammeds Bett stand, wächst heute ein Baum, eine besondere Akazienart, die sonst vor allem auf Friedhöfen zu finden ist. Niemand habe ihn gepflanzt, beteuert die Mutter. Eines Tages sei er einfach da gewesen. Es sind Überhöhungen dieser Art, die die Familie am Leben halten. Aus Mohammed haben sie einen Helden gemacht. Keiner hatte mit dem Terror sympathisiert, einen Kämpfer hatte es in der Familie bis dahin nicht gegeben.

Heute dient ein ganzes Zimmer, das die Brüder in Scheich Zayed City bewohnen, dieser Heldenverehrung. Die Wände sind tapeziert mit Märtyrerbildern: ausgeschnitten und zu Collagen geklebt, wie Popstars in den Zimmern pubertierender Jugendlicher. Die Fahnen des islamischen Dschihad und Bilder seines toten Anführers Zaid Abdel Fatah, daneben Mohammed vor einem Bild des explodierenden Militärboots, eine Fotomontage. Das größte Denkmal aber haben dem Toten wohl die Brüder gesetzt. Sie alle haben ihre Söhne nach ihm benannt: Mohammed.

Nur einen Block weiter im fünften Stock: Der Bürgermeister nimmt eine Liste zur Hand, eine 30-seitige Tabelle. Sie enthält die Namen der Bürger seiner Stadt. „So eine Stadt kann nicht funktionieren“, sagt er. „Die Leute kommen aus dem ganzen Gaza-Streifen und sollen hier plötzlich als gute Nachbarn zusammenwohnen.“ Er selbst müsse ständig Streit schlichten. Gerade eben erst, als er aus Gaza-Stadt zurückkam, warteten elf Frauen in seiner Wohnung, um sich zu beschweren. Kleinkrieg, auch unter Märtyrerfamilien: Diese würde die Treppe nicht putzen, jene habe die Glühbirne aus dem Hausflur gestohlen und der Junge der anderen verprügele ständig den Sohn der vierten.

In Rafah, im Süden des Gaza-Streifens, wollen die Vereinigten Arabischen Emirate jetzt ein zweites Wohnprojekt starten. Scheich Kalifa City soll aus den Fehlern des Vorgängers lernen. Die Wohnungen sollen unterschiedlich groß sein, die Märtyrerfamilien fast ausschließlich aus Rafah kommen, um Streit zu vermeiden.

Und was ist mit Ruhm und Ehre der Märtyrerfamilien? Scharif lacht kurz auf, schüttelt den Kopf, schweigt. Er nimmt ein Bündel Essensmarken von Islamic Relief aus der Hosentasche. Er will einkaufen gehen. Dann entschließt er sich doch noch zu antworten: „Das hier ist nicht die Stadt der Märtyrer. Das ist die Stadt der Armut.“

GEORG CADEGGIANINI und JULIA THERES HELD, beide 1977 geboren, arbeiten als freie Journalisten, Georg Cadeggianini unter anderem für „Brigitte“, Julia Theres Held für das ZDF