„Sehr publikumserschreckend“ – oder etwa nicht?

Schorsch Kamerun hat in München Matias Faldbakkens Skandalroman „Macht und Rebel“ ganz bewusst das Grelle ausgetrieben und eine entspannte Revue auf die Beine gestellt

Ein Mann wie aus der Popmythenkleiderkammer: Ganz oben auf dem Kopf thront etwas, das entfernt an das „Ice Age“-Faultier Sid erinnert, und darunter wachsen Hände aus seinem Schädel wie bei Walter Moers’ Comicschurken Professor Doktor Feinfinger. Doch „Troll“ Jochen Noch hat in Schorsch Kameruns Bühnenversion von Matias Faldbakkens Roman „Macht und Rebel“ noch ein drittes Paar Hände. Und während er den Myspace-Hit „Rischtisch geil“ stoisch nachbuchstabiert, tätschelt er mit seiner Rechten die tote Rechte darunter.

So funktioniert der ganze Abend an den Münchner Kammerspielen: Man ist zart zueinander (sogar zu den abgestorbenen Teilen seiner selbst) und verweigert dem Zuschauer systematisch all die Pseudoperversitäten, die Faldbakkens Subkultur-Satire der skandalhungrigen Öffentlichkeit hingeschmissen hat: Kommt Sepp Bierbichler als Lagerkommandant das erste Mal auf die Bühne, fragt er den Eventmakler Kamerun besorgt nach seinem Befinden: „Siehst blass aus.“

Kommandant wie Makler ähneln entfernt den Protagonisten des Romans, wo „Rebel“ der desillusionierteste aller Subkultur-Ortlosen ist, den ungefähr alles „stinkig“ macht, was „Icke und Er“ „rischtisch geil“ finden. „Macht“ dagegen ist ein Muster an Ausgebufftheit, erschnüffelt Trends an den krassesten Orten und verkauft sie brühwarm an den Markt. Zusammen vögeln sie minderjährige Problemkids, schreiben Hitler-Reden um und spannen gewaltbereite Migranten zum Szene-Aufmischen ein. Alles für Schorsch Kamerun nicht wirklich interessant.

Das Thema schon, nicht aber dessen Grellheit. Deshalb hat Kamerun die emotionale Abgestumpftheit der handelnden Personen in eine Lagersituation transferiert, in der von Schauspielschülern gespielte Problemkids das Vieh sind, das zahlungskräftige Kunden ficken und brechen dürfen. Den Text des bildenden Künstlers aus Norwegen hat der Hamburger zerpflückt und locker über den gut hundertminütigen Abend verteilt: Er taugt ihm als Synchronisationsmaterial für die Elefantenrunde bei Christiansen wie für „Tom und Jerry“ gleichermaßen. Problemkids flüstern ihn wie für René Pollesch beschleunigt in die Myspace-Youtube-Wackelkamera, und Lager-Veteran Chexe (ein Amalgam aus Che Guevara und Hexe) stottert sich an einem Gerüst hängend an den textinhärenten Machtfantasien ab.

Kamerun, seit 21 Jahren Frontmann der Goldenen Zitronen und seit etwa 6 Jahren Regisseur in Hamburg, Zürich, Hannover und Berlin, ist ein unermüdlicher, kluger und selbstkritischer Transportmittelwechsler. In stets neuen Verpackungen werden (linke) Ideen von ihm zur Kenntlichkeit entstellt. Sein Transportmittel für „Macht und Rebel“ ist vor allem das ironische Zitat: Hänsel und Gretel sind neu im Team der Hardcore-Touristen und artigst dazu entschlossen, egal was kommt „total krass“ zu finden. Doch anders als der möglicherweise auch grenzerfahrungshungrige Zuschauer bemerken sie nicht, wie raffiniert sie getäuscht werden: In einer radikal entschleunigten, von jeder Aggressivität bereinigten Grundstimmung berichtet der Lagerkommandant Bierbichler gemütlich von allen Grausamkeiten, die dann nicht passieren. Und Schorsch Kamerun selbst besucht in Anzug, weißem Hemd und unkleidsamer Brille mit einem Punksong seinen musikalischen Ursprungsort, um ihm dann eine Nase zu drehen: Stoppt den plötzlichen Krach und das stroboskopierte Licht und sagt, man solle sich jetzt „ein sehr publikumserschreckendes Lied“ vorstellen. Dann tritt er singend den Beweis an, dass die Publikumserschreckung für ihn kein Thema mehr ist. Der Punk-Opa, wie er sich selbst nennt, hat eine entspannte Revue auf die Beine gestellt, die professioneller ist, als sie sich gibt, aber aus der eigenen Grundenergie zu wenig Kapital schlägt.

SABINE LEUCHT