„Die Menschen wollen einen Feind“

Wenn die Machthaber im Kreml einen Künstler zum Feind erklären, kann er oft genug nicht einmal mehr auf seine Freunde zählen. Das ist ein Erbe der Sowjetunion, sagen die Künstlerin Anna Altschuk und ihr Mann Michail Ryklin

taz: Frau Altschuk, Herr Ryklin, im Januar 2003 wurde in Moskau eine Kunstausstellung namens „Vorsicht, Religion!“ von religiösen Fanatikern verwüstet. Angeklagt wurden aber nicht die Attentäter, sondern die Ausstellungsmacher und Künstler, zu denen Sie gehörten, Frau Altschuk. Es heißt, Sie hätten die „religiösen Gefühle des russischen Volkes“ beleidigt. Wie kam es dazu?

Ryklin: Die Staatsduma verabschiedete einen an den Generalstaatsanwalt gerichteten offenen Brief, in dem sie die Künstler im Voraus wegen Beleidigung des gesamten russischen Volkes verurteilte. Das Parlament hat aber sicher nicht von sich aus gehandelt, denn es folgt bei uns heutzutage immer den Befehlen der Exekutive, also letztlich dem Kreml. Nur zwei Deputierte stimmten dagegen. Einer von ihnen, Sergej Juschenkow, wurde einen Monat später ermordet.

Sie schreiben in Ihrem neuen Buch, die Staatsmacht verteidige die Religion heute mit den gleichen totalitären Methoden, mit denen sie sie früher verfolgt hat. Ideologie scheint für die Herrscher im Kreml überhaupt nicht mehr von Belang. Worum geht es Ihnen?

Altschuk: Die Regierung treibt mit der orthodoxen Kirche ihr Spiel. Da die Kirche dem Regime viele Dienste erweist – so unterstützt sie den zweiten Tschetschenienkrieg vollkommen –, muss sie dafür offenbar ein wenig belohnt werden. Sie bekommt aber bei weitem nicht alles, was sie will. Zum Bei- spiel erhält sie ihr vorrevolutionäres Eigentum nicht zurück.

Ryklin: Der Prozess gegen uns hatte aber noch ein anderes Ziel: das Regime war im Sommer 2003 gerade dabei, die nationalchauvinistische Wählervereinigung Rodina (zu Deutsch: Heimat) aufzubauen. Die sollte bei den Dumawahlen nach dem Willen des Kreml unter anderem den Kommunisten das Wasser abgraben. Der Prozess schuf eine öffentliche Atmosphäre, in der dann die Rodina nach nicht mal einem Jahr ihrer Existenz schon mit 9 Prozent der Wählerstimmen in die Duma einziehen konnte. Auf rätselhafte Weise mobilisierten die Drahtzieher des Prozesses den Antisemitismus der Zuschauer gegen uns. In der Gruppe waren etwa 40 Künstler aus verschiedenen Ländern, darunter nur vier oder fünf jüdischer Herkunft.

Altschuk: Mich verblüffte das leidenschaftliche Bedürfnis der Menschen im Gerichtsgebäude und auch davor, einen Feind zu haben. Sie stürzten sich geradezu auf uns und schrien: „Jidden, raus aus Russland! Ihr habt tausende von unseren Kindern umgebracht!“ Und sie glaubten das wirklich.

Die christlich-orthodoxen Fundamentalisten in Russland, die Rodina und die Antisemiten sind miteinander verflochten. Warum lassen die Machthaber sie gewähren?

Altschuk: Weil die Bürger so von den Problemen in unserem Staat abgelenkt werden und Sündenböcke für ihre Unzufriedenheit geboten bekommen – mal die Juden, mal die Georgier. Alles nur, damit die Macht in den Händen von Putin und seiner Mannschaft bleibt.

Ryklin: Unter Putin blüht die Kunst der Polittechnokraten. Beim Versuch, alles im Lande zu manipulieren, nähren sie letztlich die nationalistischen Strömungen. Nach Putin können deshalb Politiker an die Macht kommen, die sich nicht mehr als „Demokraten“ und „Europäer“ bezeichnen.

Kommt dann in Russland eine Art offener Faschismus?

Ryklin: Der ist schon längst da. Früher haben wir uns immer auf das Nachhausekommen gefreut. Nach den Morden an Anna Politkowskaja und anderen denken wir jetzt: Wir müssen auf der Hut sein. Wo jetzt alle möglichen Drohungen gegen uns im Internet kursieren. Da fährst du heim und weißt nicht, wie du wieder von dort fortkommst.

Wie haben Ihre Freunde reagiert?

Altschuk: Sie waren wie gelähmt. Die Ausstellung „Vorsicht, Religion!“ wollte niemanden provozieren. Auf die Art von nationalchauvinistischen Hysterikern und ihre Pöbeleien, wie sie nach dem Ereignis gegen uns öffentlich auftraten, waren wir alle nicht gefasst. Aber mit der Zeit kamen immer mehr von unseren Freunden zur Besinnung. Nachdem man uns angeklagt hatte, unterschrieben über 500 Menschen einen Brief zu unseren Gunsten. Künstler, Schriftsteller und ganz einfache Leute.

Ryklin: Und andere mieden uns. Es gibt da eine in Russland nicht überwundene sowjetische Tradition. Wenn der Staat jemanden als Opfer auswählt, dann lohnt es sich nicht, diesen Menschen zu verteidigen. Weil die Machtverteilung zwischen dem einzelnen Bürger und dem Staat derart ungleich ist.

Altschuk: Das Straflager als geistige Instanz ist bei uns wieder präsent. INTERVIEW: B. KERNECK