Kirchlicher Segen für Agenda 2010

Katholiken und Protestanten verteidigen die Sozialreformen der vergangenen Jahre

BERLIN taz ■ Die beiden großen Volkskirchen haben Politik und Volk zu beherzten Reformen des Landes aufgefordert. „Mit kleinen Schritten und gelegentlichen Appellen an den Patriotismus sind die heute notwendigen Veränderungen nicht zu erreichen“, sagte der Vorsitzende der Bischofskonferenz, Karl Kardinal Lehmann, bei der Vorstellung der Schrift „Demokratie braucht Tugenden“.

Lehmann, der auch der katholische Bischof von Mainz ist, mahnte anlässlich der Veröffentlichung dieses 19. „Gemeinsamen Wortes“ mit der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) außerdem: „Unser demokratisches Gemeinwesen steht vor Aufgaben, die mit Routinepolitik nicht zu bewältigen sind.“

Es dauerte zwei Jahre, die 48-seitige Schrift zu verfassen. Zu den Hauptautoren gehören der frühere Bundesminister für Bildung und Wissenschaft, Jürgen Schmude (SPD), eine wichtige Gestalt im deutschen Protestantismus, und der Trierer Bischof Reinhard Marx, in der Bischofskonferenz für soziale Fragen zuständig. Auch Politikerinnen und Politiker schrieben mit, etwa die Vizepräsidentin des Bundestags, Katrin Göring-Eckardt (Grüne), und der CDU-Abgeordnete Hermann Gröhe.

Exminister Schmude betonte bei der Präsentation des Papiers mehrmals, dass das „Gemeinsame Wort“ bewusst auf konkrete tagespolitische Aussagen verzichtet habe. Gleichwohl gibt es Sätze, die sicher nicht zufällig als Bestätigung der Sozialreformen der großen Koalition, etwa in Sachen Hartz IV, gelesen werden können. Dazu gehört beispielsweise die Aussage: „Die Bürgerinnen und Bürger machen sich jedoch selbst zu Untertanen, wenn sie von einem ‚Vater Staat‘ fordern, sie rundum zu versorgen.“ Auch die Schröder’sche „Agenda 2010“ bekommt im Nachhinein und durch die Blume noch den Segen der Kirche: So heißt es an einer Stelle des Papiers, der „unvermeidlichen grundlegenden Reform der Sozialversicherungssysteme“ sei „durch nur begrenzt wirksame Reparaturen“ zu lange ausgewichen worden. Nach den Worten Schmudes ziemlich konkret seien auch die Verurteilung von Steuerflucht und Steuerbetrug. Diese seien „schwerwiegende Schädigungen der Solidarität“.

Neben diesen etwas verschlüsselten Kommentaren zur Bundespolitik geht es dem Papier aber vor allem darum, die „Tugenden“ zu betonen, die in einer funktionierenden Demokratie von den beteiligten Kräften im Sinne des Gemeinwohls gewahrt werden müssten. Dabei seien in erster Linie jene angesprochen, die im politischen Geschäft von besonderer Bedeutung sind: Politiker, Wähler, Journalisten und Lobbyisten.

Die Schrift ist eine Mahnung an die Politikerinnen und Politiker zu „Mut, Risikobereitschaft und Standfestigkeit“ auch gegenüber den Forderungen der Wählerschaft. Von den Journalistinnen und Journalisten fordern die Kirchen „Wahrhaftigkeit, eine selbstkritische Einstellung, Unbestechlichkeit, Sorgfalt, Mut und Nonkonformismus“. Das Wahlvolk wird aufgefordert, sich auch in seinem politischen Verhalten so weitsichtig zu verhalten wie im persönlichen Leben. Den Lobbyisten schließlich wird ins Stammbuch geschrieben, dass sie nicht nur ihr Partikularinteresse verfolgen, sondern auch das Gemeinwohl stets im Blick haben sollten.

„Die Kirchen möchten mit diesem Gemeinsamen Wort den Menschen in unserem Land Mut machen“, sagte der EKD-Ratsvorsitzende Wolfgang Huber, „Mut zur Mitwirkung am demokratischen Gemeinwesen, Mut zu notwendigen Reformen der Gesellschaft, Mut zum politischen Engagement in unterschiedlichen Rollen und Funktionen.“ Für Huber ist dies die „Hauptabsicht“ des Textes. PHILIPP GESSLER