Die Klarheit der Geste

Aquarelle in einer Zeit des Umbruchs: In Stefan Hayns Filmessay „Malerei heute“ sind die Reklametafeln mehr als nur Werbung, sie bereiten die Öffentlichkeit auf die kommenden politischen und gesellschaftlichen Veränderungen vor

Im Sommer 1998 beginnt der Filmemacher Stefan Hayn, Aquarelle von Werbeplakaten im Stadtbild von Berlin anzufertigen. Der Wahlkampf ist bereits in vollem Schwung und die Rhetorik von Veränderung, Umbau und Umdenken ist auch in der Werbung allgegenwärtig. Die Slogans auf den Reklametafeln sind nicht nur Kommentare auf das aktuelle Politspektakel, sie bereiten die Öffentlichkeit vor auf die kommenden politischen und gesellschaftlichen Veränderungen. „Rot ist die Liebe – und das soll auch so bleiben“, dichtet etwa ein Waschmittelhersteller im Jahr, als Schröder Kohl als Kanzler ablöste. Eine Zigarettenmarke fordert: „Wählt die neue Harmonie.“

In „Malerei heute“ präsentieren Hayn und Anja-Christin Remmert diese Gemälde in Art einer Diaschau, unterbrochen nur von wenigen szenischen Arrangements. Sie ergeben das Protokoll eines Wandels unter krisenhaften Bedingungen: Katastrophenfilme, Fitnesswahn, leere Versprechungen, kaum verhüllte Drohungen bei Nichtanpassung oder Verweigerung der neuen Gegenwart. Bewusst hat sich Hayn dabei nicht auf das scheinbar einfachere Medium Fotografie verlassen – eine Technologie der Aufzeichnung, die mit Bruchteilen von Sekunden arbeitet, hätte nicht die geduldige Kraft, Veränderungen zu zeigen, die sich ebenso schleichend wie stetig entfalten. In der Verschmelzung von realem Stadtraum und künstlichem Raum der Werbeplakate gelingt es dem Film, eine Aufmerksamkeit zu entwickeln für das Ausmaß der Neujustierung des Gesellschaftlichen. Zugleich überlagert sich der öffentliche mit einem persönlichen Diskurs. Was man sieht, sind persönliche Erinnerungen an eine Zeit des Umbruchs, die die Verhältnisse hervorgebracht hat, in denen wir heute leben. In der unmittelbaren Nachkriegszeit, so Hayn, umgingen die Menschen das Fotografieverbot der Alliierten, indem sie ihre Umgebung und ihr eigenes Leben mit Hilfe von Leinwand und Pinsel abbildeten. Solche Malerei ist persönlich und kollektiv zugleich, sie kann als Ausdrucksmittel der Kunst und als solches der Dokumentation gelten.

Mehrere Stunden benötigt Hayn pro Gemälde, die er in U- und S-Bahn-Stationen auf dem Boden sitzend anfertigt. Eine Regel lautet, dass ein Bild dann fertig ist, wenn er wieder aufsteht. Manchmal geschieht das nicht freiwillig. Der Film berichtet von Schikanen durch Sicherheitspersonal der Bahn, aber auch vom aufrichtigen Interesse von einem, der sich an seine eigene Zeit im Kunstunterricht erinnert. Auch die Produktionsbedingungen sind Teil der Gemälde, die leer gelassenen Stellen, ihr Unfertiges ist voller Geschichten. Obwohl der Film alle Gründe nennt, pessimistisch zu sein, ist er es selbst nicht. Die Hoffnung ist nicht vordergründig, sie artikuliert sich vor allem im hellen Licht des Films, seiner beinahe transparenten Haltung, die er gegen die Überdramatisierungen der Reklameplakate setzt. „Malerei heute“ ist somit auch ein Film über „Visuelle Kultur heute“ und über „Kino heute“.

Seine einfache und einleuchtende Idee und seine spärliche, an Straub/Huillet geschulte Inszenierung machen das Überzeugende des Films aus, der insgesamt jedoch droht, an seinen eigenen Ambitionen zu ersticken. Kaum ein Thema, auf das er nicht zu sprechen käme: Sozialabbau, Neoliberalismus, Film- und Kunstgeschichte, Berliner Bankenskandal, Globalisierung, Ausbeutung, Hayns Zeit als Altenpfleger, seine Homosexualität. Natürlich sind das Private und das Politische heute weniger denn je voneinander zu trennen. Weil sich jedoch in der Verbindung von allem mit allem die Verhältnisse eher verwirren als aufhellen, schleichen sich selbst in die kompakte Spielzeit von knapp einer Stunde Abschweifungen ein, die die Klarheit der Geste konterkarieren.

DIETMAR KAMMERER

„Malerei heute“, Regie: Stefan Hayn und Anja-Christin Remmert, Essayfilm, Deutschland 2005, 60 Min.