Politik der sozialen Ästhetik

Rückkehr der Klassengesellschaft (4): Der soziale Zusammenhalt der Gesellschaft droht zu zerreißen. Wer dagegen ankämpfen will, darf nicht nur auf die Unterschicht achten

Die öffentliche Sicherheit wird immer schlechter und die private immer teurer

Das ist schon ein Erfolg: Es gibt eine Debatte über Unterschichten, und die meisten verstehen noch, was damit gemeint ist. Das ist alles andere als selbstverständlich. Es gibt Länder, es sind wohl die meisten in dieser Welt, in denen kaum jemand verstehen dürfte, was gemeint ist, wenn von Unterschichten die Rede ist. Die soziale Sprache, mit Hilfe derer solche Phänomene als Probleme überhaupt artikuliert werden können, ist nicht vorhanden. Der soziale Kommunikationszusammenhang ist zerstört oder gar nicht erst entwickelt. Die einen nehmen die anderen nicht mehr wahr. Sie sind aus ihrem Bewusstsein weggewischt wie Kreide von der Schiefertafel.

Schlimmer noch als diese Spaltung ist der Zirkel einer bizarren Rationalität, die alle Auswege versperrt und immer wieder Argumente liefert für ein Verhalten, das das Übel nur verschlimmert. Voraussetzung aller sozialen Rücksicht, des Respekts und der Solidarität ist ja, dass man den anderen wahr- und als Person ernst nimmt. Ist aber der Zustand der sozialen Anästhesie, wörtlich: der wechselseitigen Nichtwahrnehmung ganzer Teile der Gesellschaft erst einmal erreicht, dann bleiben nur noch destruktive Medien der Kommunikation: Neid, Ressentiments, Gewalt, Polizei.

Sicherheit wird zu einem großen Thema und zu einem knappen Gut. Wo auf die politische und soziale Ordnung, auf die öffentliche Sicherheit also, kein Verlass ist, muss man diese selbst als privates Gut herstellen. Das kostet – und weil es teuer ist, wollen die, die es könnten, für öffentliche Sicherheit nicht auch noch Steuern zahlen. So dreht sich die negative Spirale: Die öffentliche Sicherheit wird immer schlechter und die private immer teurer, und trotzdem halten alle an diesem System fest.

Diese pathologische Rationalität, die alles teurer und nichts besser macht, ließe sich an vielen Beispielen illustrieren, in den sogenannten Entwicklungsländern und immer öfter auch in den scheinbar entwickelten Ländern. Ein katastrophales Bildungswesen ist hier wie dort eine der entscheidenden Blockaden für jede Entwicklung.

Wer kann, wandert aus in private Schulen und Hochschulen, zahlt dafür viel Geld und sieht deshalb nicht ein, warum er über Steuern auch noch etwas für die Verbesserung und die soziale Öffnung des allgemeinen Bildungswesens tun sollte. So dreht sich das Rad immer weiter: Erst wandert man aus in private Einrichtungen, dann wandert man aus in ein anderes Land (Braindrain), weil das eigene als Folge dieses pathologischen Zirkels zurückbleibt, zurückbleiben muss.

So weit ist es in Deutschland nicht – noch nicht. Es ist ohne Zweifel die gute Seite eines auch problematischen Charakters, dass die Gemeinschaft nicht einfach einen Teil davon abschreibt und aus der Solidarität entlässt. Es gibt eine Unterschichtendebatte, und der Gerechtigkeitsverdacht wirbelt gerade die Politik und sogar CDU und CSU durcheinander. Hört man freilich genauer hin und hört auch die Signale hinter den lauten Botschaften, dann wird eine Spaltung in der Gesellschaft spürbar, die man so bisher nur aus fernen Ländern kannte. Sie könnte eines Tages auch bei uns den sozialen Zusammenhalt zerreißen und damit die Grundlage aller Sicherheit und Solidarität zerstören. Nicht nur die Unterschichten müssten dann alle Hoffnungen fahren lassen.

Als Unterschichten hat man Gruppen von Menschen definiert, die jede Hoffnung daran aufgegeben haben, durch individuelle Anstrengungen ihr Leben zu verbessern oder ihren Kindern ein besseres Leben zu schaffen. Ist dies nicht eine Definition, die man als Frage auf die Gesellschaft insgesamt übertragen könnte und die dann plötzlich wie ein Blitz die drohende soziale Spaltung am Horizont illuminiert? Was wäre, wenn die Gesellschaft mehrheitlich jede Hoffnung aufgegeben hätte, die Dinge durch kollektive Anstrengungen zum Guten zu wenden? Wenn die Deutschen mehrheitlich in einer mentalen Verfassung wären, dass „alles“ nur noch schlechter werden könne?

Niemand kann mit Sicherheit sagen, ob es unter den veränderten Bedingungen in der Welt noch möglich ist, das deutsche Sozialmodell zwar nicht in allen seinen Strukturen, aber doch in seinem normativen Kern in die Zukunft zu retten. Vielleicht haben die sozialen Pessimisten ja gute Gründe auf ihrer Seite. Klar ist aber auch: Wenn eine Mehrheit nicht mehr daran glaubt, dass Politik einen positiven Unterschied machen kann, werden sie durch ihr eigenes „rationales“ Verhalten dazu beitragen, dass sich ihre düstere Prophezeiung erfüllt – und alles nur noch schlimmer wird.

Vorerst ist es wohl „nur“ eine relevante Minderheit, die nichts mehr vom Rest der Welt, vom Rest der Gesellschaft erwartet und ihre Hoffnung nur noch darauf setzt, möglichst viel via Transfers zu bekommen, und sei es auch von einem immer kleineren Kuchen. Was aber geschieht, wenn es immer mehr werden, die sich so verhalten, wenn die Minderheitenmeinung zur Überzeugung der Mehrheit wird?

Vorerst ist es auf der anderen Seite, bei den Gewinnern und Profiteuren der Modernisierung, wohl auch nur eine relevante Minderheit, die von großen Teilen der Gesellschaft nichts mehr erwartet, weil sie glauben, in einer globalisierten Welt ihr Heu auch so in die Scheune zu fahren. Dann aber, wenn die einen die anderen abgeschrieben haben, weil sie nichts mehr von ihnen erwarten, hätte sich die sozialmoralische Qualität der Gesellschaft wirklich verändert.

Vorerst ist es wohl „nur“ eine relevante Minderheit, die nichts mehr vom Rest der Gesellschaft erwartet

Das Gegenmodell einer sozialen Ästhetik, bei der die einen die anderen wahrnehmen, verlangt zuerst und vor allem eine andere Geisteshaltung. Es braucht einen neuen konzeptionellen Bezugsrahmen, der die Gesellschaft nicht in Wirtschaft und Soziales auseinanderreißt oder beide allenfalls additiv und ex post, sondern systematisch und von Anfang an verbindet. Entscheidend wäre also, bei den sozialen Fragen und Antworten die Entwicklung der ganzen Gesellschaft mitzudenken. Zudem müsste man bei der Entwicklung der Produktivkräfte (Wissen) und der Produktionsverhältnisse (Globalisierung) stets im Auge behalten, was dies für die Lebenschancen aller Menschen bedeutet und wie man diese verbessern könnte.

Wer dagegen in bester Absicht nur an die Unterschichten denkt, wird ihnen nicht helfen, nur ihre Zahl vermehren. Eine Politik der sozialen Ästhetik, welche auch den Unterschichten wieder Hoffnung gibt, erfordert ein Umdenken auf allen Seiten. Wer nur den Neoliberalismus kritisiert, hat die Gerechtigkeitsfrage noch nicht beantwortet. Wer nur die neoliberale Reformlitanei herunterbetet, hat nichts verstanden von den kulturellen und sozialen Voraussetzungen einer kreativen Ökonomie.

Es geht um eine Umdeutung des Diskurses, wie sie Gøsta Esping-Andersen in dieser Zeitung (taz 24. 11.) skizziert hat. Es geht um eine andere mentale und politische Landkarte, die jene Orte markiert, an denen die sozialen Wege und die wirtschaftlichen Pfade auseinandergehen. WARNFRIED DETTLING