Ausrasten im Glutofen

Selbstmordattentat und Amoklauf sind grausame Akte von Einzelnen, die Spuren in der Gesellschaft hinterlassen wollen. Handelt es sich dabei um Autoaggression, die sich am Anderen entlädt? Hatte Freud doch recht mit seiner Theorie vom Todestrieb? Fragen an die moderne Psychoanalyse

Gerade in intimer Nähe entsteht die Fremdheit, die Gewalt vorausgeht

von MARTIN ALTMEYER

Alle reiten ihr Steckenpferd. Die Zeitdiagnostiker machen den Zeitgeist verantwortlich, die Gesellschaftskritiker die neoliberale Gesellschaft, die Psychotherapeuten den Zerfall der Familie, die Schulkritiker die Leistungskonkurrenz in den Schulen und die Medienkritiker die Scheußlichkeiten der virtuellen Bilderwelt von Computerspielen wie „Counterstrike“. Den jüngsten Anlass für einen anhaltenden Gewaltdiskurs liefert das Schulattentat von Emsdetten, dessen Inszenierung ungeachtet einschlägiger Vorbilder auch Überraschendes bot: Der 18-jährige Sebastian M., der zur „Revolution der Ausgestoßenen“ beitragen wollte, hatte nach Art islamistischer Selbstmordattentäter Rohrbomben um seinen Körper geschnallt. Haben wir es mit einem psychopathologischen Befund zu tun oder ist die Gesellschaft krank? Kommt die Lust an der Grausamkeit aus den Tiefen des Seelenlebens oder hat sie sich so in unsere Alltagskultur eingenistet, dass sich jeder daraus bedienen kann?

Triebregungen seien „an sich weder gut noch böse“, solche moralischen Zuschreibungen ergäben sich erst aus den „Bedürfnissen und Anforderungen der menschlichen Gemeinschaft“, hatte Sigmund Freud in „Zeitgemäßes über Krieg und Tod“ (1915) befunden, bevor er – unter dem Eindruck des Ersten Weltkriegs – in „Jenseits des Lustprinzips“ (1920) seine befremdliche Hypothese vom Todestrieb (Thanatos) als der Quelle menschlicher Aggressivität entwickelte und den erotischen Lebenstrieben gegenüberstellte. Sollte Autoaggression das Wesen des Todestriebs sein, die im Falle der Fremdaggression lediglich projiziert, also nach außen gerichtet wird? Zu eng blieb diese These jener Naturmythologie verhaftet, gegen die eine der Aufklärung verpflichtete Psychoanalyse gerade angetreten war. Die klassische Gegenthese von der exogenen Entstehung der Aggression durch schlichte Frustration konnte psychoanalytisch aber ebenso wenig befriedigen.

Die zeitgenössische Psychoanalyse widmet sich gerade der Überwindung der klassischen Fragestellung, ob die bösartige Aggression des Homo sapiens dem Triebleben entstammt oder reaktiv entsteht. Jenseits der Alternative von innen oder außen wird inzwischen eine relationale Perspektive eingenommen, aus der die Beziehungen zwischen den Beteiligten – von Phantasien und unbewussten Übertragungen freilich mitgeprägt – entscheidend sind: Die gattungsspezifische Destruktivität wurzelt in Verhältnissen der Zwischenmenschlichkeit, Intersubjektivität ist dafür der moderne Schlüsselbegriff. Gewaltbereitschaft entsteht demnach in einem Raum, in dem Individuen, Gruppen oder ganze Kulturen sich mental aufeinander beziehen, etwas miteinander austragen, aneinander gebunden – und gerade deshalb empfänglich für seelische Kränkungen sind. Hier zeichnet sich ein Paradigmenwechsel ab, der zu einer anderen Sicht auf das prekäre Verhältnis von Selbst und Anderem nötigt.

Was liefert diese „intersubjektive Wende“ der Psychoanalyse nun Neues zum Verständnis menschlicher Aggressivität? Es ist empirisch gut belegt, dass an Wochenenden und Feiertagen mit der Heftigkeit von Familienauseinandersetzungen auch die Zahl psychiatrischer Aufnahmen steigt. Kindesmisshandlung und Vergewaltigung in der Ehe stehen auf der Rangliste der Gewalttaten ganz oben. Bei der Mehrzahl der Mord- und Totschlagsdelikte stammen Täter und Opfer aus dem gleichen Umfeld. Die grausamsten ethnischen Verfolgungen ereignen sich zwischen eng verwandten Bevölkerungsgruppen. Freud hat das einmal den „Narzissmus der kleinen Differenzen“ genannt: Wenn man sich zu nahe kommt, wächst das Risiko enttäuschter Glückserwartungen, uneingelöster Beziehungsansprüche und unausgeglichener Anerkennungsbilanzen, bis die tiefste Kränkung des Selbst in die äußerste Wut auf den Anderen (oder in Selbstzerstörung) umschlägt. Es sind gerade Umstände intimer Verwicklung, nicht solche der Fremdheit, unter denen die Kommunikation entgleist und in jene fatale Sprachverwirrung mündet, die der manifesten Gewalt in aller Regel vorausgeht.

Individuell entsteht die destruktive Aggression etwa im Rahmen einer problematischen Mutter-Kind-Beziehung, einer verzerrten Familienkommunikation oder einer eskalierenden Partnerschaftskrise. Kollektiv entspringt sie häufig einer affektiven Gruppenspannung (wie in der Enge jener Siegburger Gefängniszelle, in der ein junger Mann von seinen Mithäftlingen auf bestialische Weise umgebracht wurde) oder einem soziokulturell, religiös oder politisch-weltanschaulich aufgeladenen Konflikt, der unlösbar, nicht mehr verhandelbar scheint (die grauenhaftesten Beispiele finden sich in den blutigen Stammes- und Bürgerkriegen dieser Welt). Gewalt ist Ergebnis einer zusammenbrechenden Kommunikation, aber selbst ihr Zusammenbruch enthält noch szenische Botschaften, die keineswegs hermetisch sind, sondern verstanden werden können. Gewalt „spricht“ unbewusst eben doch: Es geht um das Verhältnis von Macht und Ohnmacht, von Anerkennung und ihrer Verweigerung, von Selbstfindung und Selbstbehauptung, um eine Beziehung zum Anderen also, die im performativen Vollzug der Vernichtung agiert wird.

Die metapsychologischen Grundlagen einer solchen Objektbeziehungstheorie der Destruktivität finden wir bei Donald Winnicott. Er nimmt einen Übergangsraum zwischen Subjekt und Objekt an, der nicht nur für Spiel, Kreativität und Entgrenzungserfahrungen, sondern auch für Zerstörungsfantasien offen ist. In der frühen Kindheit ist dieser Raum von der überlebenswichtigen Fiktion des hilflosen Säuglings gefüllt, er könne über die Mutter verfügen. Durch ihr einfühlsames Verhalten wird die narzisstische Illusion zunächst bestätigt, im Zuge unvermeidlicher Frustrationen aber schließlich enttäuscht.

Während der Säugling seine Allmachtsvorstellung zu retten versucht, indem er die Mutter angreift und „zerstören“ will, muss diese – wenn sie „gut genug“ ist – sich als „unzerstörbar“ erweisen und den Angriff überleben. Im gekonnten Wechselspiel von mütterlicher Einfühlung und Versagung entdeckt das Kind eine widerständige, von ihm unabhängige Wirklichkeit, auf die es seinerseits angewiesen ist, an der es aber wachsen und eigene Grenzen aufbauen kann. Der frühkindlichen Aggression kommt also eine realitäts- und zugleich selbstkonstituierende Funktion zu. Paradoxerweise erlangt das entstehende Selbst gerade dadurch Autonomie, dass es im Scheitern der Attacke seine Abhängigkeit vom Anderen anerkennt. Um aber diese Entwicklungsleistung zu erbringen, muss es sich seinerseits als eigenes Wesen anerkannt fühlen: Erst diese Umkehrbarkeit der Anerkennung lässt den Prozess der Identitätsbildung gelingen.

Diese aus der psychoanalytischen Entwicklungspsychologie gewonnenen Einsichten über Ursprung und Funktion der Aggression können wir für das Verständnis menschlicher Destruktivität im allgemeinen verwenden. Die Grenzen zum Anderen, auf den es doch angewiesen ist, verletzt das Selbst, um sich seiner eigenen Größe, Mächtigkeit und Unabhängigkeit illusionär zu vergewissern – die Verleugnung der kränkenden Abhängigkeit vom Anderen ist die Quelle jener unbedingten Vernichtungsbereitschaft, die weder psychisch repräsentiert noch kommunikativ gebrochen werden kann, sondern zur zerstörerischen Aktion drängt. Das Mindeste, was wir dagegen tun können, sofern keine Lösungen oder Kompromisse in Sicht sind, ist präventiv für genügend Abstand zu sorgen, damit der Glutofen der Nähe nicht überkocht.

Mit aller Vorsicht ließen sich – aus der Perspektive einer relationalen Psychoanalyse – die gewaltschwangeren Konflikte, die den Globalisierungsprozess begleiten, als unbewältigte Näheprobleme eines Kosmos begreifen, der auch mental zusammenwächst. Mit der Nötigung zur wechselseitigen Anerkennung bringt die globalisierte Intimität, so meine These, auch jene tödliche Kraft der Negation hervor, die Differenz auslöschen muss, um Unterschiedslosigkeit herzustellen. Der erbitterte „Kampf der Kulturen“, wie er zwischen Gewinnern und Verlieren im Weltmaßstab, aber eben auch in den „Bürgerkriegen“ im Inneren der Gesellschaften stattfindet, wäre Symptom dafür, dass das global immer enger geknüpfte Interaktionsnetz mit seinen Kommunikations- und Flexibilitätsanforderungen eine Belastungsgrenze erreicht hat, an der sich die Gescheiterten sammeln.

Zum Ausklang des Freud-Jahres debattiert die Deutsche Psychoanalytische Gesellschaft (DPG) am Wochenende in Bad Homburg unter dem Titel „Eros und Thanatos“ über das Schicksal der Triebtheorie.Vom Autor liegt zu dem Thema das Buch „Im Spiegel des Anderen“ vor.