Romane für tausend Jahre

Der Germanist Horst Denkler forscht den Debütanten während der Nazizeit hinterher

VON CARSTEN WÜRMANN

Interessante Literatur im Nationalsozialismus? Kann es das wirklich gegeben haben?

Weniger als wertlos seien die Bücher, die von 1933 bis 1945 in Deutschland überhaupt gedruckt werden konnten – „Ein Geruch von Blut und Schande haftet ihnen an, sie sollten alle eingestampft werden“, so das Verdikt Thomas Manns im September 1945. Der vom NS-Regime ins Exil Getriebene wollte die im „Dritten Reich“ veröffentlichte deutsche Literatur nicht von den Verbrechen der Deutschen trennen und urteilte mit gutem Recht politisch-moralisch. Die Germanistik, die – uneingestanden oder nicht – lieber gute Literatur von guten Menschen behandelt, übernahm für lange Jahre diese Wertung, die sich auch ohne weiteres mit einschlägigen Titeln belegen lässt.

In wie starkem Maße aber dabei der Umfang der Literaturproduktion wissenschaftlich unerschlossen blieb, zeigt die aktuelle Studie des Berliner Germanisten Horst Denkler über die Schriftsteller, die in dieser Zeit debütierten oder ihren literarischen Durchbruch erlebten. Die meisten von ihnen wurden, ob sie nun Anhänger, Mitläufer oder Verächter und Gegner des Nationalsozialismus waren, von Diktatur und Krieg verschlungen, ihre Biografien und Bücher vergessen. Was sie hinterließen, bezeichnet Denkler mit seinem von Michael Rutschky teilentlehnten Titel als „Lebenstrümmer“ und „Werkruinen“, und er begibt sich auf die Suche nach den literarischen Spuren dieser „verlorenen“ Schriftstellergeneration.

Dafür unterzieht er hunderte von Romanen, Erzählungen, Gedichten und Essays einer kritischen Relektüre. Mit Hilfe zeitgenössischer Quellen, Verlagskorrespondenz, privater Aufzeichnungen, Zeitungen und Zeitschriften rekonstruiert er den von NS-Institutionen eingeschränkten und überwachten Literaturbetrieb mit seinen verbliebenen Nischen. Die Texte sortiert Denkler weniger nach politischen Haltungen und Inhalten als vielmehr nach auffälligen Themenfeldern, wie der „Ausflug ins Fremde, Ferne“, die „Rückwendung zur Kindheit und Jugend“ oder die „Generationserfahrung Krieg“.

Dabei erweisen sich manche eingängige Zuordnungen als trügerisch. Ein Phänomen wie die „Einkehr ins Abseitige“, die Betonung des Stillen und Einfachen, die eher eine Distanz zum Regime auszudrücken scheint, findet sich – genau wie ihre Ablehnung – sowohl bei erklärten Parteigängern wie bei regimefernen Autoren. Während die einen die Flucht aus einer NS-Welt versuchten, wollten die anderen sich „mit dem Blick nach innen“ für die Anforderungen des NS-Staates stählen, getreu einer zeitgenössischen Losung: „Ruhig vorwärts! Menschlich ins Innere! Hart bis zum Äußersten!“

Den jeweils Reihen von Autorinnen und Autoren umfassenden Querschnittsdarstellungen folgen Fallbeschreibungen zu einzelnen Büchern und Menschen, deren Schicksal Denkler mit Hilfe von Partei- und Reichsschrifttumskammer-Akten, Korrespondenzen, Melderegistern und Gefallenenlisten erhellt. Er stößt dabei auf einen Autor wie Kurt Hancke, der 1938 mit der Erzählung „Zwielicht“ debütierte, in der sich ein „lebensschwach-weltflüchtiger“ Ich-Erzähler seltsame „Traumwüsten“ und „Trümmerhalden“ erschließt. Parallel verfolgte Hancke eine SS-Karriere, die ihn ins Reichssicherheitshauptamt und schließlich an die Ostfront führte, wo er 1941 fiel.

Oder Wilhelm Philipp Fath, der unter dem Pseudonym Kilian Kerst in den 1930er- und 1940er-Jahren mit böse endenden Texten vom gegenwärtigen Unheil in einer scheinbar heilen Welt Aufmerksamkeit erregte. Fath, der allen NS-Organisationen ferngeblieben war, konnte nach dem Krieg nicht an seine Erfolge anschließen, eine Wiederauflage seiner Werke geriet in die Turbulenzen der Währungsreform. Lange bevor Fath 1981 starb, war Kilian Kerst tot und vergessen.

Selbst der Vernichtungskrieg der Deutschen im Osten wird bereits überraschend deutlich erzählt, etwa in dem Buch „Volk im Feld“ (1943) von Kleo Pleyer. In seiner Überzeugung „die beste Sache der Welt“ zu verfechten, schreibt er in seiner in weit über 60.000 Exemplaren aufgelegten Propagandaschrift ganz offen von Judenermordung und Gefangenenerschießungen. Oder aber von dem 1944 gefallenen Hermann-Georg Rexroth, der mit dem 1945 erschienenen Roman „Wermutstrauch“, den Krieg im Osten literarisch überzeugend als Welt des Grauens zu schildern vermochte. Seiner Witwe und dem Verleger Claasen gelang es nicht, dieses bemerkenswerte Buch im Nachkriegsdeutschland zu platzieren, die Restauflage wurde in den 1950er-Jahren eingestampft.

Das Fazit, die Denkler aus seiner material- wie faktenreichen Literaturgeschichte zieht, ist differenziert. Denn wenn ihm auch die literarische Hinterlassenschaft dieser „verlorenen“ Generation reicher zu sein scheint, als es die gängigen Pauschalmeinungen bislang vermuten ließen, so sieht er doch die gesamte Literatur irreversibel von der NS-Diktatur geprägt; ihre literarische Form, ihr Inhalt und ihr Schicksal lassen sich nicht aus dem Zeitkontext lösen. Obwohl er manchem Autor wie etwa Kerst oder Rexroth eine Wiederauflage wünscht, ist er hinsichtlich eines Erfolgs skeptisch: Zu fern seien die Texte auch in ihren spezifischen Qualitäten von heutigen Rezeptionsgewohnheiten.

Ob man Denkler in jeder Einschätzung folgen wird, sei dahingestellt, doch um ihm zu widersprechen, muss man diese Bücher erst einmal lesen. Namen und Titel hat er mit seiner Studie hierfür im Übermaß bereitgestellt.

Horst Denkler: „Werkruinen, Lebenstrümmer. Literarische Spuren der ‚verlorenen Generation‘ des Dritten Reiches“. Max Niemeyer, Tübingen 2006, 270 Seiten, 54 Euro