Die Entdeckung der Pornophonie

Als Organ spielt das menschliche Ohr beim Sex oft nur eine Nebenrolle, auch wenn unser Gehör für erotische Botschaften und sinnliche Reize sehr empfänglich ist. Seltsam, dass es erst jetzt eine CD-Box wie „Heavy Breathing“ gibt – mit 69 Songs, die nur eines gemeinsam haben: Es wird gestöhnt

VON KLAUS RAAB

„Aaaah!“, aaaht es aus den Boxen, und „Stöhn!“ stöhnt es. Die Nacht ist mild, und wenn man zufällig am Pimpernel in der Müllerstraße vorbeikommt, am Rand des Münchner Hauptausgehdreiecks, kann sich von außen die Vermutung aufdrängen, die Gäste des Clubs hätten ihre Selbstbeherrschung an der Garderobe abgegeben. Zumal wenn eine Frauenstimme in dem Moment sehr ausgiebig „Oooh“ oooht.

„Aaaah“ auf dem AB

Um den Abend zusammenzufassen: Uffz, das Gestöhne von den Plattentellern dauert die ganze Nacht. Die Wandgemälde im Club zeigen barock verfremdete Liebespaare, Frauen und Männer, Männer und Männer, die nackig aufeinander herumeiern. Schon am Eingang zum Club liegen kleine Anstecker aus, auf denen die wichtigsten Textbausteine der Songs, die gespielt werden, abgedruckt sind: „Aaaah!“ steht auf einem, „Oooh“ auf einem anderen und „Stöhn!“ auf dem dritten. Es handelt sich um Lieder, deren Texte vornehmlich aus dem mit Vokalen gespickten Vokabular des Fortpflanzungsaktes bestehen: Stöhnsongs.

Die Geschichte, die der Party vorausging, begann vor 15 Jahren in der Wohnung von Hias Schaschko. Eines Nachts hörte er seinen Anrufbeantworter ab, und darauf – so geht die Sage, die er streut – war die Stimme einer Frau, die ihm lustvoll stöhnend berichtete, tufftuff, sie sei ein Zug. Er sagt, er wisse bis heute nicht, wer das gewesen sei.

Die Dame hat im Pimpernel ihre Premiere als Sängerin und ahnt vermutlich davon gar nichts. Schaschko hat mit den Münchner Musikern Markus Acher (The Notwist), Carl Oesterhelt (F.S.K.) und Albert Pöschl (Queen of Japan) unter dem Namen Tender das erste Lied seines Lebens eingespielt. Es heißt „A Train“ und ist eine Vertonung des Anrufbeantworterspruchs. „A Train“ ist der einzige neue Song auf einer vierteiligen Compilation, die Schaschko zusammengestellt hat und deren Veröffentlichung der Anlass für die Party ist: einer fünfstündigen Stöhnsongkollektion namens „Heavy Breathing“ (Normal Records), deren erste zwei von vier Teilen, „Bite It!“ (Easy Listening bis Beat) und „Thrill me!“ (Funk bis Hiphop), nun erscheinen. Im Februar kommen Folge drei und vier, „Stop it!“ (New Wave bis Drum & Bass) und „Touch me!“ (Disco bis Techno). 69 Songs befinden sich darauf, 69 lechzende, dreckige, wimmernde, geheimnisvoll verschleierte, derbe, blümchenhaft verspielte, ohrenpornographische, obszöne Stöhnsongs auf vier voll gepackten CDs oder Vinyls.

„Je t’aime“ als Ursünde

Das klingt nach Arbeit, denn selbst bei den Alleswissern von Google tauchen unter dem Suchwort „Stöhnsong“ nur der Songversuch „From Noon Til Midnight“ der Fernsehmoderatorin Michelle Hunziker auf, der Klassiker „Je t’aime“ von Serge Gainsburg und Jane Birkin, außerdem Madonna, Donna Summer, Britney Spears, Lil’ Kim und irgendwas mit Jesus Christ Superstar. Und sonst: nichts. Tatsächlich hat Hias Schaschko sieben Jahre lang gesammelt und an der Compilation herumgedoktert.

Man muss die Frage, die sich da aufdrängt, also stellen: Geht’s eigentlich noch, Herr Schaschko?

Schaschko, den man unter anderem für seine Postkarten kennt, die er mit Sätzen wie „Fröhliche Arschnachten, ihr Weinlöcher!“, „Deutsche, kauft nur deutsche Bananen!“, „Was den Österreicher vom Deutschen trennt, ist die gemeinsame Sprache“ oder Raucherwarnungspersiflagen wie „Hüte dich vor allem, was es gibt!“ beschriftet, sitzt auf einem braunen Ledersofa unter der Abbildung eines freigelegten Gehirns und sagt: „Ich hätte auch Fußballlieder zusammenstellen können, davon habe ich auch genug. Nur handelt es sich da halt um Scheiße. Aber das Stöhnzeug ist einfach prima Musik.“

Und das kann man drehen und wenden, wie man will: Das leuchtet ein. Schaschko sagt: „Mir ist aufgefallen, dass es diese Musik gibt, und sie war nicht in ihrer ganzen Bandbreite dokumentiert.“ Und so hat er die Dokumentation übernommen: von Pete Lewis’ und Little Esther Phillips’ „Ooh Midnight“ von 1951 – Phillips knurrt dabei immer wieder „Midnight“, „Midnight“, stöhnt aber nach heutigen Maßstäben noch nicht – bis zum sehr heutigen „Stay Together“ von N.E.R.D., das nur Männerstöhnen enthält. In der Sammlung sind der alte Latino-Discofunk-Top-Ten-Hit „Jungle Fever“ von den Chakachas, die spanisch stöhnen; De La Souls „Pawn Star“; Ike & Tina Turners „Doin It“; „Custom Made“ von Lil’ Kim, das auf der Techno-Orgasmus-Hymne „French Kiss“ von Lil’ Louis basiert; feministische Selbstermächtigungssongs, wie sie Didi Neidhart im Booklet-Text nennt, etwa Suzie Seacells „Me and my vibrator“ von 1979; möglicherweise lesbisch kodierte Songs wie „Zoom Party“ des Orchesters Albert van Dam, in dem man nur eine Frau stöhnen hört; und schmierige Treppenhaus-Hyperventilations-Kuriositäten wie „Irre gut“ von Lotte & Leherb, die Schaschko aus dem österreichischen Fernsehen kennt. Funkelndes, Politisches, auch Queeres, Burleskes und total Peinliches. Immer aber ist explizit die Lust an der Körperlichkeit im Spiel.

Und so trägt die Kategorie des Stöhnsongs zur Diskussion über ein uraltes Thema bei: die Verbindung von Pop und Sex. Wenn der Stöhnsong als eigene Kategorie gedacht wird, muss auch die Relevanz des sprachlichen Ausdrucks neu gedacht werden. Denn gerade in den frühen Tagen des Rock ’n’ Roll waren es weniger der sprachliche Ausdruck (hier: Stöhnen) als flexibel interpretierbare Aspekte wie Körperbewegung, Kleidung und Metaphorik der Texte, die den Pionierstatus begründeten, der Musikern in der sexuellen Revolution zugeschrieben wurde. Elvis Presley etwa zog sich rosa Anzüge an, die bis dahin als die Berufskleidung schwarzer Zuhälter gegolten hatten, und wackelte geradezu unverschämt mit den Hüften. Little Richard sang „Tutti Frutti“. Aber was ist ein rosa Anzug, was Hüftwackeln, was die mehrdeutige Metapher von allerlei Früchtchen gegen die Inszenierung eines Orgasmus?

„Oooh“ wie Orgasmus

Der Stöhnsong taugte sogar noch Ende der Sechziger zum Skandal, als schon Gipsabdrücke von diesem und jenem Musikerpenis im Verkehr waren. Das lässt sich an einem französischen Klassiker ablesen. Brigitte Bardot hatte im Jahr 1967 mit Serge Gainsbourg den akustischen Liebesakt „Je t’aime“ aufgenommen. Gunter Sachs, mit dem sie damals verheiratet war, war gar nicht begeistert. Er verstand den Song als Liebeserklärung an seine Frau und ließ die schon gepressten Platten einstampfen. 1969 nahm Gainsbourg das Lied noch einmal mit Jane Birkin auf, mit der er mittlerweile liiert war, und diesmal wurde es auch veröffentlicht.

Der Vatikan nannte den Song eine „beschämende Obszönität“. Anders gesagt: Das Lied hatte geschafft, was Gunter Sachs, den man nun nicht päpstlicher als den Papst nennen kann, schon angedeutet hatte. Es hatte das Potenzial zum Aufreger; kaum ein Radio spielte es, obwohl es längst ein Hit war. Und der unverblümte sprachliche Umgang des Songs –„Aaah!, „Oooh“, „Stöhn!“ – mit der Tatsache, dass die Kinder nicht vom Storch kommen, hatte dafür gereicht.

Die „Heavy Breathing“-Reihe selbst schert sich um solche Fragen nach größeren Zusammenhängen, die angesichts vielfältiger stilistischer Prozesse und unterschiedlicher Sexualisierungskontexte immer auch etwas Spekulatives haben, allerdings nicht. Sie hält sich weder mit großen Mythen des Pop noch mit Aufklärungsarbeit auf; es geht vor allem um die Songs selbst. Didi Neidhart hat kleine Texte zu jedem verfasst; einen Überblick über den ganzen verstrickten Wahnsinn darf man sich aber selber zurecht trinken.

„Es war wichtig“, sagt Hias Schaschko, „dass jeder Song gut ist oder kurios oder peinlich, dass er irgendeine Qualität hat.“ Und so hat er, neben den drei Ansteckern, die im Pimpernel ausliegen und auf denen „Aaah!“, „Oooh“ und „Stöhn!“ steht, noch einen vierten gemacht. Auf dem steht: „So schöne Lieder gibt’s!“, Und diese Lieder sind in jeder Hinsicht: echte Liebhabermusik.