Eine für alle

Angela Merkel bekommt mit Abstand mehr Stimmen als die Ministerpräsidenten

Die Vorsitzende unterstützt den Oettinger-Antrag, den Kündigungsschutz zu lockern

Aus Dresden LUKAS WALLRAFF

Es ist ihr erster Parteitag als Kanzlerin. Ein Stimmungstest. Einen Putsch hat niemand erwartet, aber Angela Merkel muss beweisen, dass die CDU immer noch voll hinter ihr steht. Das Ergebnis bei ihrer Wiederwahl zur Vorsitzenden ist, angesichts der momentan schlechten Umfragewerte für die Union, geradezu glänzend: 93 Prozent. Besser als beim letzten Mal. Die Union zeigt Disziplin. Aber die Delegierten geben auch andere Zeichen.

Zeichen, wie sie sich wirklich fühlen.

Es sind deutliche Zeichen. Generalsekretär Ronald Pofalla, der Merkel treu ergeben ist, kommt mit akzeptablen 82 Prozent noch ungeschoren davon. Ihren Unmut über den Streit in der Führung lassen die Delegierten an Merkels Stellvertretern aus. Nur Merkels einzige Vertraute unter den Parteivizes, Bildungsministerin Annette Schavan, kann ihr Ergebnis halten. Richtig abgewatscht werden dagegen die Ministerpräsidenten Christian Wulff und Roland Koch, die als Rivalen Merkels gelten. Noch härter trifft es Jürgen Rüttgers, der als einziger Vize vor und auf dem Parteitag für eine sozialere Ausrichtung der Union plädiert hat. Er nimmt die Wahl an, aber er wirkt gebeutelt. Als Einziger sagt er offen, dass ihm sein Ergebnis „nicht gefällt“.

Merkel kann zufrieden sein. Dabei haben die Delegierten auch ihr zu verstehen gegeben, dass sie unzufrieden sind. Nicht per Stimmzettel, eher subtil. Donnernden Applaus gibt es während Merkels Rede nur, als sie die Erfolge bei den letzten Landtagswahlen aufzählt – und als sie Gerhard Schröder „gute Reise“ bei der Promo-Tour für seine Memoiren wünscht. Dann wird es ruhig in der Messehalle.

Jetzt geht es um Merkels eigene Bilanz. Die große Koalition habe schon in ihrem ersten Jahr „mehr beschlossen und mehr erreicht als manche Vorgängerregierung in Jahren“, sagt die Kanzlerin. „Wir gehen viele kleine Schritte in die richtige Richtung“, sagt Merkel und erntet – Schweigen. In diesem Moment wirkt Merkel auch allein unter 1.001 Delegierten. Allein mit ihrem größten Problem. Dem Problem, ihr altes Image als Radikalreformerin mit ihrer aktuellen Tätigkeit als Kompromiss-Kanzlerin zu verbinden. Was sie 2003 in Leipzig durchgesetzt habe, sei richtig gewesen, sagt sie. Aber nun sagt dieselbe Politikerin: „Es gibt nicht die eine ‚Großmaßnahme‘. Manchmal habe ich den Eindruck, manche warten auf den Urknall, und dann wird alles gut. Das gibt es nicht, das ist Träumerei, und das hat nichts mit realer Politik zu tun.“

Merkel träumt nicht. Sie begibt sich auf einen Ausflug in die Weltpolitik, der den Delegierten zeigen soll: Aus der Uckermarker Pfarrerstochter ist eine Staatsfrau geworden. Eine, die sich um „globale Herausforderungen“ wie den Klimawandel kümmert. „Die Welt braucht eine Politik, die auf die gegenseitigen Abhängigkeiten Antworten gibt“, sagt sie und nennt ein Beispiel: „Die Welt braucht einen neuen Stellenwert von Private Public Partnership.“ Ruhe im Saal. Viele können oder wollen da nicht mehr folgen. Manche beginnen schon in Zeitungen herumzublättern. Die Schlagzeilen über den „Richtungsstreit in der Union“ interessieren sie mehr.

Die Kanzlerin unterstützt den Rüttgers-Antrag, das Arbeitslosengeld für Ältere zu erhöhen

Erst am Ende ihrer Rede spricht Merkel über die „Flügel“, die sich zurzeit so laut zu Wort melden: den Sozial- und den Wirtschaftsflügel. Nun werden alle wieder wach. Will sie nach links, nach rechts, geradeaus? Merkel gibt eine Antwort, die nicht zur alten Radikalreformerin, aber sehr gut zur Kompromisskanzlerin passt. „Wirtschaft und Soziales waren bei uns nie Gegensätze“, betont Merkel. „Wir sind die Partei von Arbeitnehmern und Arbeitgebern.“ Die CDU, sagt sie, stehe „seit 60 Jahren in der Mitte der Gesellschaft“.

Und sie selbst? Will nur ein Gefühl vermitteln: dass sie in der Mitte der Partei steht. Sie unterstützt den Rüttgers-Antrag, das Arbeitslosengeld für Ältere zu erhöhen. Sie unterstützt den Oettinger-Antrag, den Kündigungsschutz zu lockern. Ihre Begründung: „Wir machen Politik für alle.“ Merkel – eine für alle. Aber alle für eine? Nun kommt der witzige Teil. Jeder im Saal weiß, wie oft die Ministerpräsidenten in Merkels erstem Regierungsjahr herumgemeckert, wie oft sie Entscheidungen blockiert haben. Merkel bedankt sich dennoch für die „großartige Zusammenarbeit“ im Bundesvorstand. Sie kritisiert niemanden direkt. Wenn sie eine Spitze los wird, tut sie es im Namen der Parteibasis.

„Viele an der Basis“, sagt Merkel, hätten in den letzten Monaten „manchmal gesagt, dass einige von uns an einer Kamera auch einfach mal vorbeigehen könnten, ohne etwas zu sagen“. Dafür gibt es lauten Beifall. Es ist der Moment, in dem die Delegierten zeigen: Du bist nicht allein. Sie zeigen: Wir sind zwar unzufrieden, wir verstehen die Regierungspolitik nicht. Aber noch mehr stören uns die Störmanöver der Ministerpräsidenten. Mit dem guten Wahlergebnis hat die Partei Merkel vor allem eines gegeben: Zeit.