Vorauseilende Vergreisung

In Michael Thalheimers Inszenierung von Jon Fosses „Schlaf“ am Deutschen Theater Berlin bewegen sich Liebespaare in Zeitschleifen. Das schafft Déjà-vus auf der Bühne – und auch hinter den Kulissen

von KATRIN BETTINA MÜLLER

„Winter und Frühling, Sommer und Herbst, so ist das Leben. Immer dasselbe und immer verschieden.“ Wer hat das gesagt in dem Stück „Schlaf“ von Jon Fosse? War das nicht voller Ungeduld die junge Frau, die nach vier Jahren in einer Wohnung und mit einem Mann an ihrer Seite nicht mehr weiß, wo der Impuls für Bewegung im Leben noch herrühren sollte? Oder war das die mittelalte Frau, die zu ihrem mittelalten Mann – so sind die Bezeichnungen der Rollen – nur nach Hause kommt, um gleich wieder zu gehen und ihm diese Sätze als Floskel des Trostes hinwirft? Oder war es der alte Mann, der nach dem Tod seiner Frau weiß, dass die Jahreszeiten das Einzige sind, was wiederkehren wird?

Keiner von ihnen hat es genau so gesagt, aber jeder von ihnen einmal ganz ähnlich. Die Sprache besteht aus Schlaufen in diesem Fosse-Stück, das Michael Thalheimer am Deutschen Theater Berlin inszeniert hat. Alles bewegt sich in zyklischen Strukturen: das Klavierstück, das nicht von der Stelle kommt. Die Sätze, die in einfachen Variationen von den Mündern der jungen Paare zu dem mittelalten und dem alten Paar wandern. Die Gefühle, die den Partner umkreisen und in ihm die Antwort auf die Frage nach dem eigenen Selbst suchen. Und das Mobiliar auf der Drehbühne, das im Schneckentempo seine Kreise zieht. Sand rieselt in einem Strahl von der Decke, trommelt wie Regen auf dem Porzellan des Frühstückstischs und bedeckt nach und nach alles.

Irgendwann kommt man drauf, dass die jungen, mittelalten und alten Personen zusammengehören wie Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eines Menschen. Die Perspektive, aus der der norwegische Schriftsteller Fosse sie nebeneinander stellt, hat etwas von einer Existenzphilosophie für schlichte Gemüter, in der Mann und Frau immer Mann und Frau sind und Dinge wie Herkunft, Arbeit, Freunde keine größere Bedeutung haben. Alles schrumpelt, alles schmilzt weg, was über diese Paar-Konstellationen hinausgeht. Schrecklich. Das wirkt wie eine vorweggenommene Vergreisung, ein Verblassen aller Erinnerung an das Leben bis auf wenige Punkte – durchgestrichen, was sonst noch passiert ist.

Michael Thalheimer hat Fosse ohne einen Funken von Zweifel an der Wahrheit dieser Perspektive inszeniert. Es gibt berührende Momente, etwa wenn die alte Frau sich auf den Bühnenboden legt. Ob Unfall oder Krankheit weiß man nicht, wohl aber, dass die Angst, schon vor dem Sterben aus der Liebe, der Erinnerung und den Gedanken anderer zu fallen größer ist als die Angst vor dem Tod. Der alte Mann, der sie findet, weiß das alles auch; und dass er das weiß und wir das wissen, ohne dass darüber geredet wurde, macht sicher eine Stärke der Inszenierung und von Fosses knapper Sprache aus.

Thalheimers Kunst der Konzentration und Verdichtung wirkt bei vielen Inszenierungen nach klassischen Stoffen befreiend, weil sie die komplexen Figuren mit heutiger Emotionalität und Intellektualität füllt. Aber bei diesem selbst schon eingedampften Stoff ist das Vorgehen eher redundant. Vielleicht sind sich der Autor und der Regisseur formal zu ähnlich. Jedenfalls ist der Zugriff des Regisseurs dort viel fruchtbarer, wo der Stoff seiner Ökonomie der Gefühle auch mehr Widerstand entgegensetzt.

Einen Tag vor der Premiere von „Schlaf“ hatte das Ensemble des Deutschen Theaters Berlin einen offenen Brief an Berlins Regierenden Bürgermeister in seiner neuen Eigenschaft als Kultursenator geschrieben: Man möchte Michael Thalheimer, zur Zeit als Leitender Regisseur am Haus, gerne als neuen Intendanten sehen. Damit wenden sich die Schauspieler gegen eine Entscheidung, die der bisherige Kultursenator Thomas Flierl kurz vor dem Ende seiner Amtszeit traf: Er sagte dem Dramaturgen Thomas Oberender in einem Vorvertrag zu, ab 2008 Intendant des Deutschen Theater zu werden.

„Immer dasselbe und immer verschieden“: Diese Sätze aus Fosses „Schlaf“ passen auf die Ereignisse hinter den Kulissen. Denn schon einmal hatte Flierl vor zwei Jahren einen neuen Intendanten für das Deutsche Theater gefunden, den Schriftsteller Christoph Hein, der dann, geschockt vom starken Gegenwind aus der Öffentlichkeit und auch aus dem Haus, von dieser Ernennung schnell Abstand nahm. Schon damals hatten das Theater und der noch amtierende Intendant Bernd Wilms aus der Presse von der neuen Leitung erfahren. Man einigte sich auf eine Interimslösung, mit Wilms als Intendant bis 2008 und einer Findungskommission, die eben Thomas Oberender vorschlug. Gegen ihn hat das Ensemble auch gar nicht viel einzuwenden – außer, dass man ihn eben am Haus noch nicht kennt und sein Ruf nicht sehr groß ist. Mit Thalheimer dagegen konnte das Deutsche Theater inzwischen zu Huse und bei Gastspielen gewaltig punkten.

Jetzt kann man nur hoffen, dass es bei einem Déjà-vu bleibt und nicht ein zweiter Kandidat in seinem Ruf beschädigt wird, bevor er sich in seinen Absichten überhaupt zu erkennen geben konnte. Die Berufung kurz vor Amtsschluss war ein Knalleffekt, den das Ensemble jetzt mit ähnlich theatralischen Mitteln zu kontern versucht. Ausnahmsweise muss man einmal auf eine Verlangsamung hoffen und darauf, dass alle miteinander zu reden beginnen, bevor Inthronisierungen und Abschüsse stattfinden.