Eindringen ohne vorzudringen

Gehörige potenzielle Schocks: Die Ausstellung „Into Me / Out of Me“ in den Kunst-Werken wagt, feuchtes Fleisch im trockenen White Cube abzubilden

VON MARCUS WOELLER

Mag die Stimmung in den USA moralisch immer verkniffener werden, auf dem Feld der bildenden Kunst werden Skandale seltener. 1999 noch wurde in New York die Ausstellung „Sensations“ mit Werken aus der Sammlung Saatchi beinahe geschlossen, weil von Rudolph Giuliani über George W. Bush bis Hillary Clinton die politische Elite die Schau einer amtlichen Zensur unterziehen wollte. Im Sommer dieses Jahres dagegen stieß die Ausstellung „Into Me  / Out of Me“ auf keinerlei Widerstände. Dabei sind deren Themen und ihre Visualisierungen weitaus drastischer als die Sensationen von damals.

„Into Me / Out of Me“ thematisiert jetzt auch in den Kunst-Werken (KW) die künstlerische Auseinandersetzung mit dem Körper und dessen physischer Durchdringung. Hier geht es um das Eindringen, das Ausbluten, die Penetration und die Perforation. In mehr als 350 Arbeiten von knapp 140 Künstlern aus den letzten 40 Jahren wird gewürgt, uriniert und ausgeschieden. Es wird gevögelt, ejakuliert, gezeugt; geboren und entbunden; erkrankt, gestorben und verwest; aber auch geholfen und gepflegt. KW-Gründungsdirektor und gerade berufener Leiter der neu eingerichteten Abteilung für Medienkunst am Museum of Modern Art, Klaus Biesenbach, trug die Idee seit Anfang der Neunzigerjahre mit sich herum und realisierte sie zuerst für das P.S.1, einen Ableger des MoMA in Queens.

Aufgrund der völlig anderen räumlichen Gegebenheiten in Berlin wurde die Ausstellung jetzt überarbeitet und erweitert. Biesenbachs Grundgedanke, das Feuchte des Fleischlichen im trockenen Abstraktionsraum des White Cube abzubilden, ist jedoch geblieben. Drei Abteilungen lassen sich grob unterscheiden: Stoffwechsel, Sexualität und Verletzung. In der großen Halle im Tiefparterre der KW präsentiert sich ein Kaleidoskop der Körpergewalten als Einstieg in das Projekt, auf den vier Etagen werden die unterschiedlichen Aspekte weiterverfolgt.

Wer von den Bildern körperlicher und sexueller Gewalt aus Fernsehen und Internet nicht genügend abgestumpft ist, kann sich hier noch gehörig schockieren lassen. Besonders die Performancekünstler haben seit den Sechziger- und Siebzigerjahren die Grenzen physischer Belastbarkeit ausgelotet und die eigene Schmerzunempfindlichkeit als künstlerisches Material eingesetzt. Chris Burden ließ sich 1971 vor laufender Kamera von einem Scharfschützen in den Arm schießen. Marina Abramović hält einen Bogen, ihr Partner Ulay spannt die Sehne. Der Pfeil zielt direkt auf ihr Herz, Mikrofone verstärken ihren immer schneller werdenden Herzschlag. Die israelische Künstlerin Sigalit Landau schwingt in einem Videoloop einen Hula-Hoop-Reifen aus Stacheldraht, bis ihr nackter Bauch aussieht wie die Stirn Christi nach der Abnahme vom Kreuz.

Die Verletzung des Körpers ist eben nie ohne ihren historischen oder kulturellen Symbolgehalt zu sehen. Manche Bilder entstehen überhaupt erst im Kopf. Alfredo Jaar schreibt nur ein paar mal „Rwanda“ untereinander und der Film kann ablaufen. Damien Hirst reiht Schmerztabletten in einem pharmazeutischen Reliquienschrein auf. Teresa Margolles lädt zum Anhören ihrer CD „Sonido de la morgue“. Wie klingt das Sterben?

Wie es aussieht, zeigt Hannah Wilke in drei Selbstporträts, großformatigen Aktfotos, aufgenommen kurz vor ihrem Krebstod. Robert Boyd samplet in einem rasanten Kurzfilm die kollektiv verdrängten Bilder der Gewaltherrschaften und Genozide des 20. Jahrhunderts. Rineke Dijkstra fokussiert dagegen das entstehende Leben und hält in Mutter-Säugling-Porträts den Moment der Umwandlung einer körperlich-medizinischen Verbindung in eine soziale fest. Dass Sexualität nicht zwangsläufig der Erfüllung eines Kinderwunsches dient, zeigt etwa Andrea Fraser: Sie bestellt sich über ihren Galeristen Interessenten aufs Hotelzimmer und bannt den Akt der Verwirtschaftlichung ihres Körpers als zynische Life-Performance auf DVD.

Die Ausstellung verdeutlicht in ungeheurer Materialfülle, wie unerschöpflich das Thema der gewaltsamen Verletzung oder lustvollen Öffnung des Körpers in der Kunst ist. Aber „Into Me / Out of Me“ leidet unter der fehlenden Vermittlung der Exponate. Man erfährt weder etwas über die kunsthistorischen Bedingungen etwa von Performancekunst vor 30 Jahren noch über die Hintergründe zeitgenössischer Fotografien und Installationen. Der Katalog erscheint leider erst im Januar. So läuft die Ausstellung Gefahr, nur vordergründig spektakulär zu erscheinen, ohne in eine inhaltliche Tiefe vorzudringen.

bis Februar, Di–So 12–19, Do 12–21 Uhr, Kunst-Werke, Auguststr. 69