Wahnsinnsköpfe

Das Liebieghaus in Frankfurt zeigt zwanzig Charakterköpfe aus dem bis heute faszinierenden Werk Franz Xaver Messerschmidts, eines der fortschrittlichsten Künstler des aufgeklärten 18. Jahrhunderts

von URSULA WÖLL

Selbst ein „Zungezeigen“ ist nur im Kontext interpretierbar. Albert Einsteins Mienenspiel macht seine weit herausgestreckte Zunge zur ironisch-mutwilligen Geste. Der Alabasterkopf, den Franz Xaver Messerschmidt um 1780 schuf, streckt zwar eine ebenso beachtliche aus dem weit geöffneten Mund, doch die Augenpartie wirkt durch tiefe Furchen schmerzhaft verzerrt. Er erhielt daher den Namen „Der Speyer“, allerdings erst nach dem frühen Tod des Bildhauers 1783. Die Büste ist heute verschollen und nur als Foto im Katalog der Ausstellung „Die phantastischen Köpfe des Franz Xaver Messerschmidt“ präsent.

Der Künstler meißelte oder goss nämlich über sechzig solcher „Kopf-Stückhe“ in denen er jedes denkbare Mienenspiel festhielt – meist in extrem übersteigerter Form. Zwanzig dieser in der Kunstgeschichte einmaligen Büsten stellt nun das Liebieghaus Frankfurt aus. Die meisten bestehen aus Blei oder Bleilegierungen. Durch ihre Schwärze wirken sie besonders irritierend. Die Kuratorin Maraike Bückling stellte dem Panoptikum menschlicher Leidenschaften einige Porträtbüsten voran, die zeitlich früher entstanden. Bei deren Gestaltung hatte der Künstler seinen einstigen barocken Formenkanon bereits ad acta gelegt.

Mit höfischen Porträts, die den Status der Porträtierten anstelle ihrer Individualität betonten, war der 1736 geborene Franz Xaver Messerschmidt früh bekannt geworden. Schon als Kind kam er aus seinem Heimatort Wiesensteig bei Ulm in die renommierte Bildhauer-Werkstatt seines Onkels Johann Baptist Straub nach München. Danach wechselte er über Graz nach Wien und studierte an der k. u. k. Kunstakademie. Seine überlebensgroße Statue Maria Theresias im beschwingten Rokoko-Krönungsornat gefiel der Kaiserin so gut, dass sie ihn mit der Porträtierung ihres Leibarztes Gerard van Swieten betraute.

Dessen um 1770 entstandene weiße Marmorbüste zeugt von der radikalen stilistischen Neuorientierung Messerschmidts: Aufklärerische Ideen färbten auf sein Werk ab. Der Bildhauer hatte sich mehrere Monate in Rom aufgehalten, die klassischen Skulpturen studiert und vielleicht sogar Winckelmann kennengelernt. Nun verzichtete er auf alle Symbole höfischen Ranges und arbeitete die Persönlichkeit klar heraus. Hals und Schultern des Arztes sind nackt, seine Perücke ist echten Locken ähnlich, und das fleischige Gesicht mit den individuellen Zügen bekennt sich zu seiner Korpulenz.

Obwohl oder gerade weil sich in Messerschmidts Arbeiten nun die aufklärerischen Suchbewegungen der vorrevolutionären Jahre spiegelten, lehnte der Minister Wenzel Fürst Kaunitz die Bewerbung des Bildhauers um eine Professur ab und begründete das mit einer „Verwürrung im Kopfe“. Ein infames Verdikt, das zäh weiterlebte, zumal die nun von dem Brüskierten begonnene Serie der Charakterköpfe seine psychische Krankheit zu beweisen schien. Selbst der Berliner Aufklärer Friedrich Nicolai, der Messerschmidt 1781 in Preßburg besuchte, schilderte ihn, 1785, als irrationalen Eigenbrötler. Ernst Kris bemühte 1932 die Psychoanalyse und diagnostizierte eine sexuelle Neurose aufgrund der zusammengepressten Lippen mancher Köpfe. Maria Pötzl-Malikova dagegen vermutete 1982 eine Psychose. Erst Behr/Grohmann/Hagedorn sahen 1983 in ihrer Monografie im Fall Franz Xaver Messerschmidt ein trauriges Lehrstück für den bornierten Umgang mit eigenwilliger Kunst.

Der diffamierte Bildhauer verkaufte sein Haus, verließ 1775 Wien und zog schließlich nach Preßburg, damals ungarische Residenzstadt und keineswegs Provinz. Hier lebte er, seit 1780 wieder im eigenen Haus, ganz passabel von Porträtaufträgen seiner meist bürgerlichen Kunden. Zur Obsession aber wurde ihm die Erfindung immer neuer grimassierender Köpfe, die er nicht verkaufte. An ihnen konnte er, von keinen Konventionen gehemmt, seine Experimentierwut auslassen und das Spiel der Gesichtsmuskeln frei und über die anatomischen Möglichkeiten hinaus kombinieren.

Meist sind die Haare kurz geschoren und die Büstenansätze klein, damit nichts von den Gesichtern ablenkt. In immer neuen Anläufen versuchte er in sie die Wahrheiten der Seele einzuschreiben, ihrer Flüchtigkeit Gestalt zu verleihen und alle ihre Regungen zu ergründen. Messerschmidt schuf lachende, gähnende, finstere, mürrische, einfältige Mienen, und auch Gesichter mit widerstreitenden Gefühlen, weil Angst und Lust, Freude und Trauer, Anziehung und Ablehnung nah beieinander wohnen. Seinen „Schnabelköpfen“ gab er grotesk verzerrte Proportionen, die wohl alles Ausprobieren vor dem Spiegel weit übertrafen. 1783 fanden seine physiognomischen Erkundungen ein jähes Ende, er starb mit 47 Jahren, vielleicht an einer Bleivergiftung.

Bis 11. März 2007, Katalog (Hirmer Verlag, München) 29,90 €