Schizophren auf Skiern

Der Schweizer Autorenfilmer Thomas Imbach hat die Erzählung „Lenz“ von Georg Büchner fürs Kino aktualisiert. Volksbühnenschauspieler Milan Peschel gibt den Protagonisten wahrhaft besessen

Zwischen exzessiver Selbsterfahrung im Schnee und lausigen Sportversuchen bleibt der Mann Lenz ein Kind

von CLAUDIA LENSSEN

Es gibt Novellen, Romane, Opern und Filme über sein verpfuschtes Leben, seinen Wahnsinn, seinen bösen Blick auf die Verhältnisse. Jakob Michael Reinhold Lenz wollte Dichter sein, nicht Pfarrer, wie vom Vater gewünscht. Am Ende blieben nur prekäre Hauslehrerposten, was auch jede Liebeshoffnung am Geldmangel und Standesunterschieden scheitern ließ. Aus Goethes Sturm-und-Drang-Freund Lenz wurde nie ein literarischer Dandy, eher ein verzweifelter Zeitdiagnostiker. Wie konnte das Zeitalter des freien Willens angebrochen sein, wenn doch Zwänge das Leben bestimmten! In Zwiespalt, Frust und Not aus dem Nest geworfen, stürzte Lenz in Depressionen und tiefer in die schizophrene Psychose, die ihn bis zum Tod 1792 nicht losließ. Georg Büchner hat dem Borderliner später den berühmt gewordenen Satz in den Mund gelegt: „Was ist das für eine entsetzliche Stimme, die um den Horizont schreit und die man für gewöhnlich die Stille nennt?“

Thomas Imbach, Schweizer Autorenfilmer und Kameramann, ließ sich für seine „Lenz“-Adaption zwar von Büchners Novelle inspirieren, doch Pathos-Sätze, überhaupt jede philosophische Reflexion, sind daraus getilgt. Büchner erzählte die historisch verbürgte Wanderung des Dichters zu einem im Elsass wohnenden Pfarrer, bei dem der paranoide, suizidgefährdete Lenz Ruhe zu finden hoffte. Wie in dessen zerrissener Wahrnehmung die Natur beständig ihre Physiognomie ändert und von einem Moment zum anderen Horror wie Trost auslösen kann, wird zu einer existenziellen philosophischen Erfahrung. Der Idealismus der zurückliegenden Epoche sei bloß abstrakt, „eine schmähliche Verachtung der menschlichen Natur“, meint Büchners Lenz. Wirklichkeit müsse so dargestellt werden, dass die Aura des Augenblicks im Werk mitkomponiert sei. „Leben, Möglichkeit des Daseins“ wünscht er sich – ein Traum, in dem Kunst und individuelle Existenz aufs Heilsamste zusammenkommen. Die Vision von der Psychokrise als erstem Schritt zur Selbstfindung hat zahlreiche nachfolgende „Lenz“-Bearbeitungen inspiriert.

Thomas Imbachs Version greift den Appell an Unmittelbarkeit und Authentizität auf – nur wird jenseits von jeder Hoffnung auf Transzendenz daraus nicht mehr als ein voyeuristischer Einblick in die Schwerstarbeit des Psychodramas. Dagegen die zeitlose Natur: der pittoreske Riesenkegel des Matterhorns zu allen denkbaren Tages- und Nachtzeiten, von dramatischen Wolken- und Nebelformationen umgeben – das Naturschauspiel von Lenz’ Psyche erscheint in Farbe und Breitwandformat.

Zu Beginn donnert der Protagonist mit dem Auto in einen nächtlichen Wald (das Elsass der Vorlage verliert sich trunken frierend im Nebel), nimmt anderntags Kontakt zu seiner Exfrau Nathalie (Barbara Maurer) und dem gemeinsamen Sohn Noah (Noah Gsell) in Zermatt auf und versucht ab da verzweifelt, distanzlos und zuweilen slapstickartig die verlorene Kleinfamilie zurückzugewinnen.

Die Binnenperspektive der zerbrechenden Familie ist Zentrum des Films. Lenz (Milan Peschel) wird zwar durch beiläufige Bemerkungen als Filmregisseur aus Berlin charakterisiert, aber Arbeit, Kunst, Konzepte, Aufgaben sind längst von der Psychokrise abgelöst. Der Mann bleibt zwischen abgedrifteter Spielerei, exzessiver Selbsterfahrung in Schnee und Kälte, lausigen Sportversuchen am Skihang und kleinen Fluchten in das selbst gebaute Iglu ein Kind; drinnen in der Skihütte im rempelnd-kuscheligen Nahkampf mit dem Kind und der verschlossenen Mutter dasselbe Dilemma.

Milan Peschel, Volksbühnenschauspieler und seit Robert Thalheims Film „Netto“ der Typ des komisch-depressiven Melancholikers, folgt in Imbachs „Lenz“ mit wahrer Besessenheit den Spuren seines Typecastings. Er sucht den geliebten Sohn und die geschiedene Frau in ihrem Chalet auf, nistet sich dort ein, will das Kind mit seiner Gitarre, verrückten Einfällen, Geschenken und Überraschungen für sich einnehmen. Nachts stürzt er in die Berglandschaft hinaus und setzt sich Kälte und Schmerz aus, als könne er sich nur so als lebendig empfinden. Imbachs Film fußt auf Improvisation, die Montage reiht Szene um Szene verabredeter Unmittelbarkeit mit harten Schnitten aneinander. Unaufhörlich forscht die Kamera in den Gesichtern nach den Spuren der Überraschung, mit der jeder auf die Spielavancen des anderen einzugehen versucht. Ständig zieht einen die Kamera ins intime dokumentarische Familienszenario – statt der „Aura des Geschehens“ vermittelt sie die nervtötende Peinlichkeit exzessiver Klammergefühle.

Lenz erreicht eine letzte Liebesnacht mit Nathalie, nach der die Trennung unabweisbar ist. Lenz’ Kapriolen, zum Beispiel seine wie Bilderwitze eingebaute Anmache von am Haus vorüber schlitternden Skitouristen, deuten den Verfall seiner Persönlichkeit an. Pink Floyds „Wish You Were Here“ wird von Peschel in zäher Klampferei exekutiert. Leider gewinnen die Bilder nicht mehr Dichte, als man an einem Tag an Begegnungen mit Borderlinern im normalen Großstadtbetrieb mitbekommt. Was bleibt, ist der trostlos starke Satz, den Imbachs Film Büchners Vorlage verdankt: „So lebte er hin …“

„Lenz“. Regie: Thomas Imbach. Mit Milan Peschel, Barbara Maurer u. a., Schweiz/ Deutschland 2006, 100 Min.