Die verheimlichte Krankheit

„Ey, die hat Aids“ – auch in Nordrhein-Westfalen leben HIV-infizierte Kinder in ständiger Angst vor sozialer Ächtung. Einzigartig in Deutschland haben sich hier aber ihre Eltern vernetzt

VON MIRIAM BUNJES

Sylvia* war gerade 13 als Annegret Schreeck sie zum ersten Mal traf. Eine schwangerer Teenagerin mit einer vernichtenden Diagnose: Sie hat sich mit HIV-infiziert. Sylvias Geschichte ist trotzdem keine Krankengeschichte. Heute ist sie 20 und ist in ihrem Leben nie ernsthaft krank gewesen. Sie musste andere Kämpfe kämpfen. Wie die meisten infizierten Kinder, sagt Annegret Schreeck, die für die Landesaidshilfe HIV-positive Kinder in NRW betreut.

Gerade 600 infizierte Kinder zwischen Null und 13 Jahren leben in Deutschland, etwa 80 davon in NRW, schätzt das Robert-Koch-Institut. Wie bei Sylvia werden die Weichen ihrer Zukunft nicht nur vom erkrankten Immunsystem gestellt. Sylvias gesundes Baby kam in eine Pflegefamilie, obwohl es sich nicht bei der Mutter angesteckt hat und Sylvias eigene Mutter ihr bei der Erziehung beistehen wollte. „Die Behörden behaupteten einfach, dass Ansteckungsrisiko wäre zu groß“, sagt Schreeck. „Dabei geht es gegen Null.“ Als die Sozialarbeiterin dem lernbehinderten Teenager einen Platz in einer Werkstattschule vermittelte, durfte Sylvia weder am Sport- noch am Werkunterricht teilnehmen – angeblich sei das Ansteckungsrisiko für ihre MitschülerInnen zu groß. „Für dieses Mädchen gab es keine Chancen“, sagt Schreeck. „Bei ihr kam die Botschaft an: Du stirbst ja sowieso, da braucht man ja auch nichts zu investieren.“

Dabei haben die infizierten Kinder eine relativ hohe Lebenserwartung. „In den letzten 10 Jahren sind kaum Kinder an HIV gestorben“, sagt der Arzt Bernd Buchholz vom Kompetenznetz HIV. „Mit den neuen Medikamenten haben sie eine Lebenserwartung von mindestens 30 Jahren, wenn nicht sogar eine normale.“ Die wenigsten infizieren sich wie Sylvia durch Heroinspritzen oder ungeschützten Geschlechtsverkehr. Die meisten werden mit dem HI-Virus geboren, weil ihre Mutter Virusträgerin ist. Ein Übertragungsweg, der in reichen Gesellschaften vermeidbar ist. Nimmt eine schwangere Infizierte im letzten Schwangerschaftsdrittel Aidsmedikamente und entbindet das Baby per Kaiserschnitt, reduziert sich die Ansteckungsgefahr auf zwei Prozent.

Dafür muss sie natürlich wissen, dass sie den Immunschwäche-Erreger in sich trägt. „Frauenärzte sollten Schwangeren zu einem Test raten, viele machen das auch“, sagt Schreeck. Einige Frauen halten eine HIV-Infektion aber für so unwahrscheinlich, dass sie sich dagegen entscheiden. Zu Unrecht: Nicht nur Heroinabhängige oder Migrantinnen aus Nationen mit hohen HIV-Quoten gebären infizierte Kinder. „Das betrifft die ganze Gesellschaft“, sagt Schreeck. Das liege vor allem den Ehemännern. „Auch der Arztgatte geht zur Prostituierten und gerade seine Frau weiß davon nichts“, das hat Schreeck in ihren elf Berufsjahren oft erlebt. „Da immer mehr Prostituierte aus Osteuropa kommen, wo kaum Aidsaufklärung geschieht, ist das Infektionsrisiko sehr hoch.“

Den Eltern rät Schreeck, die Krankheit der Kinder geheim zu halten. Wird sie öffentlich, werden die Kinder eigentlich immer diskriminiert. „Kinder können sehr grausam sein“, sagt die Sozialarbeiterin. „Ey, die hat Aids“ ist der soziale Tod auf dem Schulhof. Es geht aber manchmal schon früher los. Zur Zeit versucht Schreeck, einer infizierten Vierjährigen im Kindergarten zu helfen. Durch den Fehler einer Kinderärztin wurde ihre Krankheit öffentlich, viele Eltern wollen nicht mehr, dass ihre Kinder mit der Kleinen in einer Kindergartengruppe spielen.

Die meisten Eltern erzählen ihren Kindern, an welcher Krankheit sie leiden, wenn sie zwölf sind. Die meisten sagen vorher: „Dein Blut ist krank“. Für die Pubertierenden ist das einschneidend: Was sage ich meinem ersten Freund, lohnt es sich überhaupt, einen Schulabschluss zu machen, wenn ich sowieso bald sterbe? Einzigartig in Deutschland gibt es im Nettetal bei Kaldenkirchen ein Jugendhaus, die „Villa Laut und Lustig“, in dem solche Fragen diskutiert werden. Bereits Ende der 1980er vernetzten sich NRW-Eltern zur Elterninitiative HIV-betroffener Kinder. Das Ziel: Den heimlichen Kranken Zukunft zu geben.

*Name geändert

www.ehk-kids.de