Ein großes Experiment

VON HANNES KOCH

Die Leute auf dem Zeitungsfoto, das Peter Schneider zeigt, tragen Lederjacken und „Hasskappen“. So nannte man in den 1980er-Jahren Motorradmützen mit einem Schlitz für die Augen. Linke Demonstranten zogen sie übers Gesicht, um von der Polizei nicht identifiziert zu werden. „Das da in der Mitte bin ich“, erklärt der 42-jährige Sozialarbeiter.

Es wurde viel demonstriert in jenen Jahren. Das kostete Zeit: Vorbereitungstreffen, Plakate pinseln, Flugblätter formulieren. Gesellschaftliche Veränderung war der Sinn des Lebens. Schneiders Studium zog sich in die Länge. Nach dem Diplom folgten der Zivildienst, schließlich Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe. Schneider, damals Bewohner einer Wohngemeinschaft, sagt: „Mit 800 D-Mark vom Staat kam ich gut zurecht.“ So hätte es noch Jahre weitergehen können – wenn nicht Schneiders neue Freundin ihm klargemacht hätte, dass sie keine Kinder von einem Sozialhilfeempfänger wolle. Das Realitätsprinzip hielt Einzug auch in Peter Schneiders Leben. „Wäre der Staat weniger spendabel gewesen, hätte ich die Kurve vielleicht schon früher genommen“, meint der Sozialarbeiter heute.

Wie faul werden die Menschen, wenn die Gesellschaft sie großzügig finanziert? Oder fangen sie etwas Sinnvolles an mit ihrer Freiheit? Das sind die großen Fragen, die viele Politiker wieder einmal beschäftigen. Über das sogenannte „bedingungslose Grundeinkommen“ diskutieren nicht nur die Grünen auf ihrem Bundesparteitag, der ab heute in Köln stattfindet. Sogar Thüringens CDU-Ministerpräsident Dieter Althaus schlägt vor, dass grundsätzlich jeder erwachsene Bundesbürger 800 Euro vom Staat erhalten soll – bedingungslos, ohne Nachweis, ob man arbeitet oder nicht.

Der Manitoba-Versuch

Paradies statt Hartz IV. Hat es es so etwas schon einmal gegeben – vielleicht im Ausland? Oft hört man: in Holland Ende der 1970er-Jahre. Stimmt aber nicht. Richtig ist zwar, dass es damals in Amsterdam und anderen Städten leicht war, 1.000 Gulden pro Monat Sozialhilfe zu kassieren. Künstlern bezahlte der Staat zusätzlich Farbe und Leinwand. Tausende ergaben sich jahrelang dem Dolce Vita kreativer Selbstbestimmung. Um ein bedingungsloses Grundeinkommen, das der Staat seinen Bürgern ohne Gegenleistung gewährt hätte, handelte es sich aber keineswegs. Die Arbeitsverwaltung gab sich nur lax, liberal und großzügig – ein Verhalten, das im Zeichen wirtschaftsfreundlicher Reformen der 1980er-Jahre alsbald aus der Mode kam.

Grundsätzlichere Überlegungen stellte da schon die kanadische Regierung an. Sie wollte Mitte der 1970er-Jahre wissen, ob man mit einem Grundeinkommen die Armut bezwingen könne und welche ökonomischen Auswirkungen dadurch hervorgerufen würden. Im Rahmen eines sozialen Experiments in der Provinz Manitoba erhielten zwischen 1975 und 1979 bis zu 1.300 Familien ein staatlich garantiertes Minimaleinkommen. Eine vierköpfige Familien, die weniger als 13.000 Dollar im Jahr zur Verfügung hatte, konnte bis zu 5.800 Dollar vom Staat bekommen. Auch Teilnehmer, die keiner Lohnarbeit nachgingen, kamen in den Genuss der Förderung.

Das Experiment erbrachte ein interessantes Ergebnis. Trotz Grundeinkommen legte sich kaum jemand auf die faule Haut. „Die Männer reduzierten ihre jährliche Arbeitszeit um ein Prozent, ihre Frauen um drei Prozent“, sagt Derek Hum, Ökonomieprofessor der Universität Winnipeg, der das Manitoba-Experiment in der 1970er-Jahren wissenschaftliche begleitete. Unverheiratete Frauen arbeiteten fünf Prozent weniger. Hum: „Die Resultate waren ermutigend für die diejenigen, die das garantierte Mindesteinkommen befürworteten.“ Aus zwei Gründen: Die verbreitete Kritik am Grundeinkommen, es würde große Bevölkerungsgruppen zum Ausstieg aus dem Arbeitsmarkt animieren, das Wachstum reduzieren und die Alimentierung für den Staat unerschwinglich teuer machen, traf offenbar nicht zu. Außerdem profitierten arme Beschäftigte dank des staatlichen Zuschusses von einem deutlich höheren Lebensstandard. Trotzdem blieb das Experiment von Manitoba ohne Folgen: Die kanadische Regierung legte das Grundeinkommen zu den Akten, als das Land Ende der 1970er-Jahre von einer Wirtschaftskrise heimgesucht wurde.

In den USA, wo ebenfalls Versuche mit dem Grundeinkommen stattfanden, kam man zu ähnlichen Ergebnissen wie in Kanada. Die Arbeitsleistung der beteiligten Bevölkerungsgruppen ging nur geringfügig zurück. Zwar wurden auch die Feldversuche in den USA bald beendet, doch rettete man einen Bestandteil des Grundeinkommen-Modells bis in die Gegenwart. Die seit Mitte der 1970er-Jahre existierende „Negative Einkommensteuer“ – Earned Income Tax Credit (EITC) – hat sich mittlerweile zum größten Sozialprogramm der USA entwickelt. Eltern mit mehreren Kindern, die durch eigene Arbeit unter 14.600 Dollar pro Jahr erwirtschaften, erhalten einen staatlichen Lohnzuschuss in Form einer Steuergutschrift von maximal 4.400 Dollar. Wenn Beschäftigte mit sehr niedrigen Einkommen selbst mehr Geld verdienen, steigt auch der Zuschuss: Es ist ökonomisch also rational, mehr zu arbeiten. US-Bürger, die keine Lust verspüren, einem Gelderwerb nachzugehen, erhalten hingegen keine öffentliche Förderung. Das ist schade im Hinblick auf die deutsche Debatte: Welche Anreizwirkungen von einem bedingungslosen Grundeinkommen ohne Pflicht zur Arbeit ausgehen würden, lässt sich anhand der negativen Einkommensteuer nicht beurteilen. Sicher erscheint dagegen die segensreiche Wirkung für die arbeitenden Armen: Ihr Lebensstandard steigt dank des staatlichen Kombilohns erheblich an.

Das weltweit größte Programm, das dem Grundeinkommen nahe kommt, hat 2003 die brasilianische Linksregierung von Präsident Inácio Lula da Silva aufgelegt. 44,5 Millionen von 187 Millionen Brasilianer sind im Besitz einer gelben Plastikkarte, mit der sie bei einer öffentlichen Bank ihre monatliche Unterstützung abheben können. Wer unter 120 Real (41 Euro) pro Kopf zur Verfügung hat, bekommt bis zu 95 Real (33 Euro) vom Staat dazu. Arme Eltern mit zwei Kindern können ihr Einkommen damit etwa bis zur Höhe des brasilianischen Mindestlohns aufbessern. Eine Pflicht, bestimmte Jobs anzunehmen, gibt es in Brasilien nicht. „Dennoch muss man Bedingungen erfüllen, um die Unterstützung zu erhalten“, sagt Daniel Lins, Abteilungsleiter für Politik der Brasilianischen Botschaft in Berlin. Eltern sollen ihre Kinder beispielsweise zur Schule schicken und regelmäßig impfen lassen. Ein wichtiger Aspekt für Deutschland: Eine soziale Basissicherung muss nicht mit der individuellen Arbeitspflicht verbunden sein, sondern kann auch mit anderen Bedingungen verknüpft werden. Denn die soziale Integration der Bürger in die Gesellschaft läuft nicht nur über Erwerbsarbeit, sondern auch über Bildung und Tätigkeiten jenseits des Sektors der formellen Arbeit.

Öldividende in Alaska

Während in Brasilien nur etwa 25 Prozent der Bevölkerung einen Zuschuss erhalten, kommen in Alaska alle Bürger in den Genuss einer staatlichen Überweisung. Seit 1976 arbeitet im nördlichsten Bundesstaat der USA der Alaska Permanent Fund. In diesen Investmentfonds fließen mindestens 25 Prozent aller Staatseinnahmen aus der Ausbeutung des Erdöls und anderer Bodenschätze. Der Fonds ist verpflichtet, jedes Jahr einen bestimmten Prozentsatz seiner Einnahmen unter den knapp 700.000 Einwohnern Alaskas aufzuteilen. Von einem Grundeinkommen, das das Existenzminimum sichern würde, kann trotzdem keine Rede sein. Dafür sind die ausgeschütteten Summen zu gering. 2006 betrug die Öldividende pro Kopf 1.107 Dollar. Im vergangenen Jahr erhielt jeder Bürger 846 Dollar.

Trotz mancher nützlicher Hinweise haben die bisherigen Grundeinkommens-Experimente eine für Deutschland beschränkte Aussagekraft. Die Erfahrungen aus dem Ausland sind nur ansatzweise übertragbar: Entweder nahmen zu wenige Menschen an den Versuchen teil, die Unterstützungsleistung ist zu gering oder an bestimmte Bedingungen geknüpft. Sollte eine Bundesregierung bereit oder gezwungen sein, das Grundeinkommen tatsächlich einzuführen, würde sie nicht nur Neuland betreten, sondern auch ein soziales Großexperiment in bisher nicht da gewesenem Maßstab durchführen.