„Ich habe den Asphalt studiert“

Seit vor zwei Wochen im Wrangelkiez junge Migranten und die Polizei zusammenstießen, ist der Hiphopper Senol zur einer Integrationsfigur geworden. Das hat auch persönliche Gründe: Der 31-Jährige war einst Mitglied einer brutalen Gang – und er möchte nicht, dass sich diese Geschichte wiederholt

„Wir müssen die Kids bei ihren Interessen packen und ihr Selbstwertgefühl stärken“

von PLUTONIA PLARRE

Das Leben in der Wrangelstraße ist gerade erwacht, als vor dem Kaffeehaus Maxi zwei schwarze Limousinen vorfahren. Heraus steigt der türkische Generalkonsul Ahmet Nazif Alpmann. Am Revers seines grauen Nadelstreifenanzugs funkelt ein Anstecker mit goldenem Halbmond und Stern auf rotem Grund. Unter den Arm hat der korpulente Mann eine Klarsichtfolie mit Zeitungsartikeln geklemmt. Vom Kreuzberger Mob, der über Polizisten herfällt, ist in den Berichten die Rede. Von beinahe Pariser Verhältnissen im Wrangelkiez. Aber auch von jungen Migranten, die sich für ein friedliches Miteinander engagieren. Genau dieser Gruppe um den Hiphopper Senol gilt nun der hohe Besuch. „Schreiben Sie, ich bin als eine Art Familienvater gekommen, der zur Lösung der Probleme beitragen möchte“, sagt Generalkonsul Alpmann.

Senol – der Name taucht in den Medien immer wieder auf, seit Anwohner und Polizei vor zwei Wochen im Wrangelkiez zusammengestoßen sind. Der 31-Jährige, der nur mit seinem Vornamen angeredet werden will, ist ein kräftiger junger Mann mit kurz geschorenem Kopf und für Hiphopper typischen weiten Klamotten. Er hat am runden Tisch bei den Gesprächen mit der Polizei und Bezirksamtsmitgliedern als Vertreter der Jugendlichen agiert. Mit dem Vorwurf, im Kiez gebe es keinen geeigneten Treffpunkt für Jugendliche und junge Erwachsene, hat er sich bei den Sozialarbeitern der umliegenden Jugendeinrichtungen alles andere als beliebt gemacht. Senol sagt, er kenne sich aus, weil er in einigen Einrichtungen auf Honorarbasis Graffiti-Kurse gibt. Seine Beobachtung sei, dass die so genannten Stressmacher unter den Kinder und Jugendlichen, also die, die auch auf der Straße Probleme machen, von den Angeboten ausgespart blieben.

Es gibt Stimmen, die Senols Reden damit abtun: „Der will sich doch nur profilieren. Dem gefällt es, im Rampenlicht zu stehen.“ Senol sagt, er möchte seinen Beitrag dazu leisten, dass sich die Geschichte nicht wiederholt – seine eigene Geschichte und die der heute auf den Straßen herumhängenden „Kanaakjungs“, in der Mehrzahl gebürtige Türken, aber auch Araber, Jugoslawen und Albaner.

„Ich habe den Asphalt studiert“, sagt Senol lapidarisch. Er kenne das Milieu. „Ich war früher extrem kriminell und gewaltbereit. Ich weiß, wie das funktioniert. Mir kann keiner was vormachen.“ Er sagt das mit gedämpfter Stimme, es klingt fast traurig, kein bisschen auftrumpfend oder angeberisch.

Senol wird 1975 in Kreuzberg geboren. Er hat sechs Brüder und eine Schwester. Unter den Kinder gehört er zu den jüngeren. Sein Vater verdingt sich zunächst als Bäcker, überlässt das Geldverdienen aber schon bald seiner Frau. „Er war kaum da“, erinnert sich Senol. Die Mutter geht in Reinickendorf putzen. Die Kinder treiben sich den ganzen Tag in den Straßen um den Mariannenplatz und in der Wagenburg herum, in deren Nähe die Familie wohnt. „Wir waren nur zum Essen und Schlafen zu Hause.“

Dass er ziemlich intelligent ist, ist Senol früh anzumerken. Schon mit vier Jahren habe er anderen aus der Zeitung vorgelesen, sagt er. „Der Vorteil von so vielen Kindern in einer Großfamilie ist, dass man durch den ständigen Wettbewerb lernt, sich zu behaupten.“

Dass er die Ellenbogen einzusetzen weiß, kommt Senol auch auf der Straße zugute. Im Alter von 13 Jahren schließt er sich den 36-Juniors an, einem Ableger der 36-Boys. Letztere waren die erste Jugendgang, die sich Mitte der 80er-Jahre in Kreuzberg gegründet hatte. Die Idee für den Namen der Gang hatte das Urgestein der Berliner Hiphop-Szene, Maxim. Er ist heute ein Idol der Szene. Nicht nur, weil er die Geschichte dieser Kultur in der Stadt entscheidend mitgeprägt hat. Im Sommer 2003, am Tag seines 33. Geburtstags, wurde er in Köpenick von einem 76-jährigen Rentner erstochen. Der Täter, ein gebürtiger Deutscher, wurde später freigesprochen. Begründung: Er habe in Notwehr gehandelt. Ein Urteil, das nicht nur von Hiphoppern weit über Kreuzberg hinaus als große Ungerechtigkeit empfunden wird.

In Migrantenkreisen nährte der Freispruch den Eindruck, von der deutschen Staatsgewalt als Menschen zweiter Klasse behandelt zu werden, deren Leben nichts zähle. Wäre die Tat umgekehrt passiert, so die weit verbreitete Meinung, wären bestimmt 15 Jahren Knast herausgekommen.

Anders als 36-Boys seien die 36-Juniors extrem gewaltbereit gewesen, erzählt Senol. Die 36-Boys hätten sich mit den anderen Gangs lediglich geprügelt. Die Juniors hätten Reviere abgesteckt, Leute beraubt, zusammengeschlagen und erpresst.

Seit seinem 13. Lebensjahr hat Senol regelmäßig Kontakt mit der Polizei. Aber er wird trotzdem nur zu Freizeitarbeiten, nie zu einer Haftstrafe verurteilt. Auch später nicht, als er längst erwachsen ist und immer noch in kriminellen Kreisen verkehrt. Drei Monate in Untersuchungshaft seien das Längste, was er gesessen habe, sagt er.

In der neunten Klasse fliegt Senol von seiner Kreuzberger Gesamtschule. „Der Schulleiter hat mich beschuldigt, dass ich mehr Einfluss auf die Schüler ausübe als er.“ Der 15-Jährige wird auf eine Schule in Rudow abkommandiert, wo er gleich am ersten Tag eine Prügelei mit einem Skinhead anfängt. Der bringt am nächsten Tag seinen Vater, einen Polizeibeamten, mit in die Schule. Es bleibt bei einer Verwarnung. Senol verlässt die Schule mit dem Hauptschulabschluss.

Mehr oder weniger pro forma und unwillig absolviert er „Ausbildungsmaßnahme über Ausbildungsmaßnahme“, vom Tischler- bis zum Maurerlehrgang. Erst viel später, im Jahr 2002, holt er den Realschulabschluss nach. „Von meinen Fähigkeiten her hätte ich Abi machen und studieren können“, bedauert Senol, dass er nicht früher zu der Einsicht gekommen sei.

Heute betreibt der 31-Jährige von seiner Wohnung in Kreuzberg aus ein selbstständiges kleines Musiklabel: „36 Kingz“. Das „z“ steht für vollzogen: Schluss, aus mit Kriminalität und körperlicher Gewalt! Er vertreibt deutschsprachigen und deutschtürkischen Rap. Rap ohne Gewalt – geht das überhaupt? „Das ist verbale Gewalt“, sagt Senol.

„Ich war früher extrem kriminell und gewaltbereit. Ich weiß, wie das funktioniert“

An der Tür seines Arbeitszimmers hängt ein Poster mit einem Bild von Maxim. „Ein Leben für Hiphop. Wir vermissen dich“ ist darauf zu lesen. Senol hat Maxim persönlich gekannt. Zum Gedenken an den „Master of ceremony“ hat er eine Memorial-CD auf den Markt gebracht.

Es ist spät am Abend. Im Nebenzimmer von Senols Wohnung schläft sein achtjähriger Sohn. Seit der Trennung von der Mutter zieht der Vater den Jungen allein auf. Mit der Geburt des Kindes habe sich sein Leben radikal verändert, sagt Senol. Bis dahin sei er bis zur Halskrause in kriminelle Machenschaften verstrickt gewesen. Diverse Narben von Messerstichen auf seiner linken Körperseite zeugen davon. Sein kriminelles Vorleben ist auch der Grund, warum Senol immer noch keinen deutschen Pass hat. Den will er sofort beantragen, wenn die Akte, also das Führungszeugnis „sauber ist“ – das heißt, die alten Eintragungen gelöscht sind. Er sei froh und glücklich, in Deutschland zu leben, gibt Senol zu verstehen. „Ich würde gern daran mitwirken, dass das soziale System hier nicht den Bach runtergeht.“

Senols Sohn geht in die zweite Klasse der Grundschule. In der Klasse gibt es kein einziges Kind deutscher Herkunft. In vier bis fünf Jahren, befürchtet Senol, wird sein Sohn vielleicht genauso wie so viele Kid aus dem Kiez auf der Straße „lernen, wie man Gras abpackt, Leute absticht und mit Butterfly-Messern umgeht“. So zumindest sei es ihm ergangen. Der einzige Ausweg sei, die Kids bei ihren Interessen zu packen und ihr Selbstwertgefühl zu stärken – und sei es nur, dass sie lernen, gute Bilder zu malen oder regelmäßig zum Fußball zu gehen. „Deshalb brauchen wir ein offenes Jugendhaus mit motivierten Betreuern im Wrangelkiez.“ Der Grund dafür, dass die bestehenden Jugendeinrichtungen so reserviert auf seine Anwürfe reagierten, sei doch nur, „dass wir unbequem sind und Dinge hinterfragen, mit denen sie sich längst gut eingerichtet haben“.

Der türkische Generalkonsul Alpmann hat sich unterdessen mit den jungen Männern in das Café Maxi zurückgezogen. Zur Begrüßung hält er eine Rede. Danach stellen sich alle am Tisch vor. Die Unterredung wird auf Türkisch geführt. Ab und zu fallen Wörter wie „Mannschaftswagen“, „Quartiersmanagement“, „Kommission“ und „Konzept“.

Das Café füllt sich mit alten und jungen Männern, die konzentriert zuhören. Am Ende legt Alpmann dem neben ihm sitzenden Senol freundschaftlich die Hand auf die Schulter. „Ich finde es gut, dass ihr Jungs euch hier so für ein friedliches Zusammenleben engagiert“, freut sich der Generalkonsul. „Das ist eine ganz neue Erfahrung für mich.“ Nach einem Gruppenfoto wünscht er viel Erfolg und steigt in seine Limousine.