Nachdenken über böse Zahlen

Silvia Bovenschen schreibt unterhaltsam und klug über ein Thema, das offenbar immer wichtiger wird: „Älter werden“

VON RENÉE ZUCKER

Vermutlich war das Älterwerden nie so sehr Thema wie in diesen Zeiten, da die Menschen geistig wie körperlich jünger wirken als noch jede erinnerbare Generation davor. Silvia Bovenschen ist 1946 geboren und gehört zu der Generation, die zwar keinen Krieg, aber die Mühen der Nachkriegszeit erlebte und später die 68er genannt wurde.

Dass sie nicht zur wettergegerbten, ewig fitten, penetrant gutgelaunten und zeitlos sportlichen Dr.-Struntz-Klientel gehört, könnte an ihrer Intelligenz, ihrem Beruf als Literaturwissenschaftlerin liegen. Vor allem aber hat es mit ihrem Krankheitszustand zu tun. Seit Jahrzehnten wird sie von multipler Sklerose gequält und behindert.

Ein Leben, das man sich als Gesunder nicht vorstellen kann. Auf manchmal befremdliche Weise schreibt sie versteckt darüber. Vornehmheit, Diskretion, Scheu? Vielleicht will sie kein Mitleid erheischen. Es ist verständlich, und dennoch tut es einem beim Lesen fast weh, dieses deutsche „Ein Indianer kennt keinen Schmerz“ darin zu hören, die Unbarmherzigkeit mit sich selbst zu spüren, die vielleicht für den Kraftaufwand des Überlebens gebraucht wird.

Denn umbarmherzig mit sich muss eine sein, die davon erzählt, wie froh sie gewesen ist, dass sie rechtzeitig das Klavierspielen aufgegeben hat, „bevor ich gut darin werden konnte, weil ich es in der Verfassung auf keinen Fall mehr hätte sein können“. Und dann heißt es weiter: „ Erspartes Können. Das ist schwachsinnig. Ebenso gut könnte man gleich nicht leben.“ Wie schade, dass sie sich gleich ein zweites Mal wie eine strenge Klavierlehrerin mit dem Drehbleistift auf die Finger klopft …

Aber auch über Menschen ihrer Umgebung schreibt sie seltsam versteckt, und die sind überhaupt nicht krank. Da sind die Freundinnen S. Sch. und M. L. Sch. und die Freunde Th. J. oder A. G. D., und plötzlich klingen alle wie MS – nur mit Punkten.

Ungewollt komisch ist es geradezu, wenn sie über ihren verstorbenen Freund K. M. M. schreibt, dem zu Lebzeiten zu wenig Ehre zuteil geworden sei. Wenn sie allerdings Karl Markus Michel nicht beim Namen nennt, können wir Lesenden ihn nicht einmal post mortem als „Geheimtipp“, wie sie ihn annonciert, ehren.

Anfangs schwankt man beim Lesen wie sie möglicherweise beim Schreiben. Mit den abgekürzten Freunden und jenen überflüssigen Manierismen, mit denen sie sich älter macht, als sie ist. Etwa wenn sie so tantenhaft darüber klagt, dass so hübsche Wörter wie „Mannequin, chic, Schlager oder Schnulze“ verschwunden sind. Oder vor klitzekleinen Anekdoten einschiebt, wie gut oder weniger gut sie diejenige kennt, die dieses oder jenes sagt, erlebt hat … Doch nach 20 oder 30 Seiten hat sich dieses Getüddel erledigt, Bovenschen wird sicherer und entspannter beim Berichten der Beobachtungen und Verfassen der Gedanken, für die man nicht mal sechzig sein muss, um sie zu teilen oder zu verstehen.

„Sechzig. Das ist eine böse Zahl. Da ist nichts mehr zu machen. Mit sechzig ist man alt. Noch immer. Frauen sind mit sechzig älter als Männer mit sechzig“, schreibt sie.

Allerdings kennt man hier und da Frauen, die mit sechzig weniger alt als fünfzigjährige Männer sind – den umgekehrten Fall gibt’s natürlich auch. Sicher ist hier sicherlich nichts. Der meistens unsentimentale und nüchterne Ton ist zwar nicht immer einladend, aber er überzeugt, weil er zum persönlichen Ausdruck der Autorin zu gehören scheint.

Angenehm klingt ihre Erklärung dafür, warum ihre Generation so desinteressiert an den Schützengrabenerzählungen der Alten war, da man eigentlich doch an kriegerischen Abenteuern durchaus in Indianer- oder Piratengeschichten sein Vergnügen hatte:

„Es waren Geschichten von Besiegten, die sich als solche nicht klar zu erkennen gaben. […] Es fehlte das Moment des Tragischen, der schuldlosen Verstrickung, der ungerechten Heimsuchung. […] ich glaube, wir spürten: die Erzähler waren verbittert, nicht erbittert. […] Sie erreichten uns nicht, nicht im Heroismus, nicht in der Schmach. Das konnten sie nicht, und wir konnten nicht wissen, warum sie es nicht konnten.“ Ein anderer Ton in der Auseinandersetzung dieser Generation mit der ihrer Eltern. Nicht selbstgerecht und gar nicht larmoyant.

Einsamkeit wiegt schwerer im Alter. Einsamkeit ist für Bovenschen das Alleinsein mit den Erinnerungen. Dem entgegen steht das Glück, das langwährenden Ehen oder alten Freundschaften innewohnt. Diese garantierten einen Erinnerungsaustausch, der beständig durch die Filter aller hinzugekommenen Erfahrung hindurchgetrieben, erneuert und lebendig gehalten werde, „bis zu dem Punkt, an dem ihr Witz und ihre Wahrheit nicht mehr im Anspruch auf eine allgemeine Geltung, sondern in den Akten dieser vertrauten Verständigung selbst“ lägen.

„Älter werden“ ist eine unterhaltsame Lektüre mit einem einfachen wie genialen Titel.

Silvia Bovenschen: „Älter werden“. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2006, 144 Seiten, 17,90 Euro