„Ärzte nehmen Patienten als Geiseln“

Der Standeskritiker Wulf Dietrich über unsinnige Behandlungen und die heutige Protestaktion seiner Berufskollegen

taz: Herr Dietrich, viele Ihrer Kollegen schließen heute ihre Praxen. Sie selbst kritisieren den Protesttag. Können 147.000 Vertragsärzte irren?

Wulf Dietrich: Ja. Sie werden meiner Ansicht nach von den Funktionären in die Irre geführt. Es dreht sich im Wesentlichen ums Geld, Geld für die Ärzte. Um inhaltliche Dinge geht es praktisch nicht.

Die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) ist aber besorgt, dass Patienten infolge der Gesundheitsreform schlechter versorgt werden.

Die KBV nimmt die Patienten als Geiseln, um ihre eigenen Interessen zu vertreten. Der KBV-Vorsitzende Andreas Köhler hat das auf dem letzten Ärztetag recht eindeutig gesagt: Liebe Politiker, wir haben die Patienten – und wenn ihr nicht tut, was wir wollen, kann es für die Patienten schlecht ausgehen.

Wie denn?

Ärzte haben die Behandlung der Patienten in der Hand. Wenn in Praxen „Geiz macht krank“-Plakate aushängen, werden Patienten politisch instrumentalisiert.

Ist es denn gerechtfertigt, dass Kassenärzte infolge der strikten Ausgabendeckelung ein Drittel ihrer Leistungen nicht bezahlt bekommen?

Das kommt auf die Sichtweise an. Ein Kassenarzt verdient vor Steuern aus der gesetzlichen Krankenversicherung durchschnittlich 80.000 Euro pro Jahr. Das ist nicht so schlecht. Es gibt natürlich eine große Spannbreite. Ich sage ja nicht, dass es ein Traumjob ist. Für die niedergelassenen Ärzte hat sich in den vergangenen Jahren sehr viel zum Schlechteren verändert. Aber unterm Strich ist es nicht so schlecht, wie es immer dargestellt wird.

Sie stimmen der Forderung der Ärzte nach Aufhebung der Budgets also nicht zu?

Es muss weiterhin Obergrenzen geben. Man kann den Kassen nicht zumuten, ohne Ende Geld ins System zu werfen, und die Ärzte können alles abrechnen.

Welche Finanzierungsreserven sehen Sie denn sonst?

Das Geld sollte besser verteilt werden. Es gibt so viele unsinnige Dinge, die nur des Geldes wegen gemacht werden. In München werden etwa 5.000 bis 6.000 Operationen am offenen Herzen gemacht. Nötig wären nach Aussagen der Fachleute in einer Millionenstadt wie München vielleicht 3.000 Eingriffe.

70 Prozent der Niedergelassenen sind dafür, die Kostenerstattung einzuführen. Das heißt: Der Patient bezahlt seine Rechnung selbst und reicht sie dann bei seiner Kasse ein. Würde dadurch nicht alles transparenter – auch für die Patienten?

Wenn der Patient sehen soll, was gemacht wurde, dann muss man ihm dafür nicht gleich eine Rechnung stellen. Wenn die Kasse nicht alle Leistungen finanziert, müsste der Patient die Differenz sonst ja aus eigener Tasche bezahlen. INTERVIEW: ALE