Die Welt gewinnen

Das Spiel im Untergrund: In dem argentinischen Film „Kamchatka“ steht die Zeit fast still. Nur nicht für ein Kind

Der Ernst des Lebens beginnt für Kinder, wenn ihre Eltern plötzlich viel Zeit für sie haben. Das kann nicht ganz mit rechten Dingen zugehen: Wie im Fall des zehnjährigen Harry, der eigentlich in Buenos Aires lebt, sich aber plötzlich in einem Haus mit Garten irgendwo auf dem Land wiederfindet. Es ist 1976, ein Jahr, das für die Geschichte Argentiniens von einschneidender Bedeutung ist, weil die Militärs die Herrschaft im Land übernehmen. In den entscheidenden Wochen müssen eine ganze Menge Menschen in den Untergrund gehen, so auch die Eltern von Harry und seinem Bruder.

Von heute auf morgen zählt nichts mehr, was früher wichtig war: der Beruf der Eltern, die Schule, die Freunde, ja nicht einmal mehr der Name. Auch in der Familie gelten nun Pseudonyme, für den kleinen Harry bietet sich der Name des Entfesselungskünstlers Houdini an.

Seinen Titel „Kamchatka“ bekommt der Film von Marcelo Piñeyro von einem Brettspiel, mit dem sich der Vater und der ältere Sohn die Zeit vertreiben: Die ganze Welt steht hier zur Disposition der „Machthaber“, das Begehren richtet sich auf den fernsten Ort, auf die Halbinsel im äußersten Osten von Russland, die im Spiel und im Film als ein kleines gallisches Dorf fungiert. Kamchatka ist uneinnehmbar wie jener Persönlichkeitskern, den kein Gewaltregime erreicht.

Marcelo Piñeyro operiert mit Verschiebungen und Umkehrungen – die Eltern versuchen, den Kindern die politische Krise als ein Spiel zu verschlüsseln. Das Land erlebt einen Ausnahmezustand, dem die Familie gewissermaßen spiegelverkehrt ausgesetzt ist – von der äußeren Unsicherheit dringt nur wenig in die abgeschiedene Situation. Die Mutter geht immer wieder ins Dorf, allmählich stellt sich eine neue Normalität ein, die jedoch trügerisch ist. Die Ereignislosigkeit, die nur dem kindlichen Protagonisten nicht so erscheint, ist auch eine mögliche Metapher für die „tote Zeit“ der Diktatur.

So ist der Film „Kamchatka“, der 2003 schon auf der Berlinale zu sehen war, nicht so sehr eine Erinnerung an das Militärregime in Argentinien als eine Meditation darüber, und schließlich ein Requiem auf eine verlorene Generation, an die die inzwischen erwachsen gewordenen Kinder nur noch unwirkliche Erinnerungen haben – unwirklich und bedrängend wie die Grundstimmung dieses Films.

BERT REBHANDL

„Kamchatka“ läuft im Central am Hackeschen Markt