Verpfeifen gilt nicht als unmoralisch

Als wäre die UdSSR nie untergegangen: Putins neues Russland feiert seine Schlapphüte mit dem „Tag der Tschekisten“

MOSKAU taz ■ Bald ist es wieder so weit. Jedes Jahr, kurz vor Weihnachten, begeht der russische Geheimdienst FSB seinen Ehren- und Feiertag. Fernsehsender überbieten sich in Grußadressen. Ohne den FSB und seine Vorgänger KGB und NKWD, so wird dem Publikum suggeriert, wäre es schlecht bestellt um das russische Volk und seine Größe.

Der Auftritt von Kremlchef Wladimir Putin, früher selbst FSB-Chef und Spion in Ostdeutschland, verleiht dem „Tag der Tschekisten“ jeweils seinen letzten Glanz. Tschekisten nennt sich der Dienst in Anlehnung an die Tscheka, Lenins gefürchtete Geheimpolizei. Sicherheit des Vaterlandes und Schutz der Bürger seien immer die wichtigsten Ziele des Dienstes gewesen, sagte Putin sinngemäß in den Vorjahren. Millionen älterer Bürger, die in den Gulags Stalins gesessen haben, müssten eigentlich widersprechen. Auch Historiker sollten es besser wissen. Doch nicht der geringste Widerspruch regt sich.

Etwas Gottgegebenes, Schicksalhaftes haftet in der Wahrnehmung der Russen dem Geheimdienst an. Angst, Ehrfurcht, aber eben auch Stolz beschleichen die Menschen, wenn sie die drei Buchstaben vernehmen. Seit ein Exspion im Kreml regiert, ist aus dem Dienst ein Markenzeichen mit Kultstatus bei der Jugend geworden. Das Wappen der Geheimpolizei mit Schwert und Schild gilt als chic, und es prangt auf der Hülle des Ersatzrads von so manchem protzigen westlichen Geländewagen. Der Zeitgeist steht auf FSB. Wer es zu Geld und Ansehen bringen will, tritt in die „Organe“ ein. Denn spätestens seit Putin im Kreml ist, sitzen Tschekisten an vielen Schaltstellen und wickeln lukrative Geschäfte ab – im Namen eines heroischen Patriotismus.

Natürlich ahnen die Russen, dass es nicht nur mit rechten Dingen zugeht. Aber allzu genau wollen sie es nicht wissen. Soll es doch geheim bleiben. Wenn der Glaube an die Unbestechlichkeit und den Patriotismus ins Wanken käme, könnte sich der Bürger womöglich nicht mehr so sicher fühlen in der Umarmung des FSB, er müsste sich selbst Gedanken machen. Das will er aber nicht. Wer ihn dazu auffordert und gar Transparenz einklagt, macht sich unbeliebt und – verdächtig.

Das Geheime und das Geheimnis, Heimlichkeit und Geheimniskrämerei sind Grundsteine, die aus der russischen Zivilisation nicht wegzudenken sind. Jeder Hauswart und Pförtner hält sich für einen Geheimnisträger. Auch eine öffentlich zugängliche Auskunft behandeln sie wie einen potenziellen Geheimnisverrat und gebärden sich wie Geheimpolizisten. Diese Art der Personalunion stellt die Vergangenheitsbewältigung vor größere Probleme. Millionen Menschen saßen in Straflagern, Millionen müssen es indes auch gewesen sein, die sie bei der Obrigkeit angezeigt haben.

Verpfeifen gilt denn auch nicht als besonders unmoralisch. Denn es dient dem Erhalt von Staat und Imperium. Als Wahrer der Orthodoxie fühlt sich der Kreml seit dem Fall von Byzanz (Ostrom) von Westrom bedroht. Daraus wurde über die Jahre der Westen. Sonst hat sich an der Burgmentalität nichts geändert. Wen es nach Russland verschlägt, so die gängige Meinung, der will spionieren. Und wer als Journalist dort arbeite, stehe auch auf der Lohnliste der Geheimdienste des Heimatlandes. Russland handhabt es meist so. Ohne die Heerscharen von russischen Agenten, die seit drei Jahrhunderten technische Novitäten im Westen stibitzen, hätte es Moskau nicht zur Supermacht gebracht.

Kurzum: Das Geheime hat einen guten Klang und ist omnipräsent, so wie die Paranoia: Polen schicken Gammelfleisch, Letten faule Fische, Georgier trachten Russen mit gepanschtem Wein nach dem Leben. Da will es keiner hören, dass es russische Agenten gewesen sein könnten, die dem Russen Litvinenko Polonium unterschoben. Aufdeckung und Transparenz würden das virtuelle Selbstbildnis, die Verschwörungstheorien und Bedrohungsphilosophien Lügen strafen, mit denen die Herrscher das Volk bei der Stange halten.

Daher äußert sich der FSB im Weißbuch von 1996 über sein Volk recht zufrieden: Seit dem 16. Jahrhundert sei belegt, dass die Menschen hier sehr aufmerksame und fleißige Zuträger seien, mitteilsamer als andere Völker. Keiner traut dem anderen in Russland über den Weg. Im allgegenwärtigen Misstrauen findet man indes wieder zu einer Gemeinsamkeit. Nur lässt sich diese für politischen und wirtschaftlichen Fortschritt nicht nutzen. Dafür bedarf es eines Minimums an Vertrauen. In der Abgrenzung liegt – das begreift der Westen nicht – Russlands Konzept von Freiheit. Es ist keine Freiheit von staatlichen Zwängen oder individueller Knechtschaft, so wie wir sie verstehen, sondern eine Freiheit gegenüber fremden westlichen Werten.

Nichts verkörpert dies so deutlich wie der russische Geheimdienst – als Schwert und Schild der Freiheit.

KLAUS-HELGE DONATH