Im Zentrum der Fliehkräfte

Aufregung! Hamsterrad! Ausschusssitzungen! Trotzdem hat die große Koalition kaum begriffen, warum die Gesellschaft überall aus den Fugen gerät. Ein Spaziergang im Regierungsviertel. Auch ein Plädoyer für eine umfassende Debatte über Integration

Das soziale Eingebundensein muss heute auch von Konservativen bedacht und bearbeitet werden

von DIRK KNIPPHALS

Immerhin, die Integration des Regierungsviertels in die Gesellschaft ist dieses Jahr wieder ein bedeutendes Stück vorangekommen. Auch das verdient festgehalten zu werden, auf diesem Spaziergang am Spreebogen in Berlin, in der Zwischenzeit, da die Einjahresbilanzen der Kanzlerin und ihrer großen Koalition verklungen sind und die Jahresendbilanzen noch nicht angestimmt. Wo beim Thema Integration doch sonst immer alle Signalleuchten aufleuchten: Achtung, Problem! Doch dazu gleich. Zunächst an die Spree.

Beherzt pumpt der neue Hauptbahnhof Neuankömmlinge in der Hauptstadt gleich an den Spreebogen, direkt vis-à-vis vom Kanzleramt. Auch sonst ist das Regierungsgelände längst eingebettet in das normale Leben, und man ist nicht allein mit der Ansicht, dass spätestens im vergangenen Sommer der überragende Freizeitwert dieses Areals deutlich wurde. Die beiden Ufer der Spree eignen sich großartig, um joggen zu gehen, Verwandte aus den alten oder neuen Bundesländern mit einem Spaziergang zu beeindrucken, oder für junge Familien, die ihren Kinderwagen ausführen.

Das alles wird auch fleißig getan. Abends kann man dann aber auch ganz für sich auf einer Bank der Spree beim Fließen zugucken oder der Weihnachtsbeleuchtung des Bahnhofs beim Leuchten, während vom anderen Ufer des Flusses heimelig die Lichter des Kanzleramtes herüberscheinen. Ein guter Platz für traute Gespräche. Oder um als einzelner Bürger seinen Gedanken nachzuhängen.

Die Idyllik kann aus diesem Text gleich wieder verschwinden. Worauf es nur ankommt, ist, dass das Regierungsviertel von Berlin für den Spaziergänger inzwischen einen ganz eigenen Wettstreit der Perspektiven herstellt. Blickt man durch die Fenster in Sitzungssäle und Cafeterias – man kommt ja ganz nah heran! –, kann man sozusagen in der gebauten Hardware den Eindruck nachvollziehen, den man hat, wenn man sich von den Fernsehnachrichten Realität ins Wohnzimmer schaufeln lässt, und von dem übrigens auch die Journalistenkollegen erzählen, die embedded vom Politbetrieb in Parlamentsredaktionen arbeiten: Aufregung! Hamsterrad! Ausschusssitzungen! Für all diese brüllende Betriebsamkeit, so denkt man dann, bieten die Gebäude beeindruckende Hintergründe. Großes Politkino. Pathos der Sachlichkeit. Transzendenz der Effizienz. Wie auch immer. In der Routine der Politik kann man hier eine Kulisse aus Beton und Glas für das politische Drama entdecken.

Tja, und geht man nur einige Schritte weiter, hundert Meter reichen völlig, sieht man nur noch die Herbstblätter über die Wege treiben, und Enten sieht man, wie sie sich gemächlich von den sanften Wellen des Flusses wiegen lassen. Nur von der Politik sieht man nichts mehr. Für die Prosa – und manchmal Lyrik! – des Lebens ist hier an der Spree viel Platz. Mitten im Zentrum stehend, ist dann der Politbetrieb so weit weg wie der Suhrkamp Verlag vom Betriebsfrieden. Dann ist einem sogar der Vollmond näher, der da gleich über dem Reichstag wieder einmal Grünanlage und Stadt still füllet mit seinem Glanz.

Nähe und Ferne zur Politik, direkt nebeneinander. Und während man hier an diesem winterschönen ersten Adventswochenende herumschlendert, irgendwo den ersten Glühwein des Jahres nimmt und seine Eindrücke überprüft, kann man sich durchaus überlegen, dass es gerade diese Doppelperspektive ist, die einen das Regierungsviertel so integriert erscheinen lässt.

Was die weitere Umgebung dieses Viertels betrifft, so kann man oder vielleicht eher muss man in Sachen Integration natürlich derzeit ganz andere Eindrücke gedanklich bearbeiten. Die Perspektiven von Nähe und Ferne, Drinnen und Draußen, Dabeisein und Nichtdabeisein, außerhalb des Spreebogens sind das bekanntlich existenzielle Fragen. Und das lässt dann das Beeindruckende der Regierungsgebäude gelegentlich etwas gewollt aussehen. Dies hier ist also das politische Zentrum eines Landes, das in den vergangenen zwölf Monaten ziemlich aufgeregt, stellenweise sogar panisch über die Bedingungen und Möglichkeiten gesellschaftlicher Integration nachgedacht hat. Kann aber, denkt man, eine Gesellschaft, die auf so vielen Gebieten ihre eigenen Integrationsmechanismen in Frage stellen muss, sich selbst überhaupt kennen?

Es ging ja nicht nur um die Migranten. Mit ihnen fing die seit Beginn der großen Koalition im Grunde auf Dauer gestellte Debatte nur an. Schließlich: Wer gegenüber Migranten hohe Integrationsideale einfordert, gerät in Erklärungsnot, wenn er die eingeborenen Deutschen damit in Ruhe lässt. Es ging also auch um die Unterschichten, und zwar in den Punkten Bildungsferne, Arbeitsmotivation, Ernährungsgewohnheiten und Kinderversorgung. Auch hier wurde Desintegration diagnostiziert und Integrationsbedarf angemahnt. Es ging auch um die Mütter – spätestens hier trat Integration nicht nur als Forderung der Gesellschaft ans Individuum, sondern auch als Forderung der Individuen an die Gesellschaft auf. Kinderbetreuung, finanzielle Unterstützung für Erziehende, auch das sind Aspekte einer Integrationsdebatte. Dreht es sich hier doch darum, für die jungen Mütter über die Familie hinaus eine Integration auf dem Arbeitsmarkt und in der Gesellschaft zu gewährleisten.

Zuletzt hatte ja auch noch die Generation Praktikum neulich ihre medialen 15 Minuten. Eine hohe Integrationsbereitschaft gut ausgebildeter junger Leute trifft auf Rahmenbedingungen von Bildungssystem und Arbeitsmarkt, die beide Integration nicht von vornherein garantieren können. Insgesamt also: Alle sollen sich integrieren, die meisten wollen sich auch integrieren, viele aber haben Probleme damit, den Willen umzusetzen. Und klammheimlich fragt man sich gelegentlich, ob irgendjemand in dieser Gesellschaft sich überhaupt noch integriert fühlt; so ganz sicher gegründet sollen die Mittelschichten ihr Leben auch nicht mehr finden. Die deutsche Gesellschaft, so scheint es, führt unter der großen Koalition nebenbei eine ganz große Integrationsdebatte.

Ein eingeübtes essayistisches Verfahren wäre nun, über die Gründe dieser Entwicklung nachzudenken, eine allgemeine Irritation zu konstatieren, Parallelgesellschaften in den armen und ausländerreichen Stadtvierteln zu beklagen, vielleicht noch über Deutschpflicht light (wenigstens für Schulkinder) zu diskutieren und letztlich über ein, zwei weitere Umwege bei den großen Integrationsagenturen Arbeitsmarkt und Bildungssystem zu landen. Das wäre dann aus der Perspektive der Nähe zur Politik gedacht. Und tatsächlich möchte man, wenn man schon einmal hier ist, irgendwie an diese großen, schönen Fensterfronten klopfen, die die Räume der Bundestagsausschüsse zur Spree hin abgrenzen: Hallo! Abgeordnete! Wenigstens beim Bildungssystem müsste sich dringend einiges ändern und das Fordern und Fördern für alle Wirklichkeit werden! Und bitte jetzt bloß kein Zurückweichen in der Kinderbetreuungsfrage, Stichwort Eva-Prinzip! – Aber es ist ja am Wochenende eh niemand da.

Man kann aber auch die Vorteile des Areals nutzen, zurücktreten und so gleichsam vom Spreeufer aus einen Überblick zu gewinnen suchen, was da gesellschaftlich alles ins Rutschen gekommen ist. Nicht, dass man da alles schlecht fände. In der CDU/CSU gibt es inzwischen zumindest einen Widerstreit darüber, auf welche Integrationsmotoren man setzen soll. Neben die traditionalen Integrationsanstalten Kirche, Familie und Tradition sind auch im konservativen Bewusstsein mittlerweile die modernen von Bildungssystem und Erwerbsarbeit getreten.

Integration muss hergestellt werden. Sie ist nicht einfach da. Ein großer Schritt! Noch unter Helmut Kohl wäre es „absurd“ gewesen (man erinnere sich an dieses Gesichtszucken, mit dem der ehemalige Dauerkanzler dies Wort immer ausgesprochen hat), überhaupt über Integration nachzudenken. Integriert war man, oder man war es nicht. Und wer nicht integriert war, gehörte nicht zu „uns“. Was Frauen und was Migranten betrifft, so gab es noch vor kurzem starke Stimmen, die Integrationsbedarf sowieso glatt bestritten hätten: Die Frauen waren durch ihre sogenannte natürliche Aufgabe von vornherein in die Familie integriert, und die Migranten gehörten eh eigentlich nicht hierher. Inzwischen wird aber auch in der Union Integration nicht nur als Problem vom Eigenen und vom Fremden, sondern als soziales Problem behandelt, das alle angeht.

Dass das nicht ohne Verwerfungen abgeht, kann man derzeit an der Debattenlage ablesen. Konservative Denkmuster, die in der Realität diffundieren – welche Frau würde sich denn im Ernst noch identitär allein als Mutter und Hausfrau begreifen? – rutschen in den Selbstverständigungsdiskurs von Feuilletons und Talkshows hinein. Das kann man zwar in gewisser Weise als Backlash werten. Zugleich sollte man aber auch sehen, dass solche Ansichten mal gesellschaftlicher Beton waren – Granit, an dem man sich die Zähne ausbiss. Inzwischen sind sie Teil des Diskurses, also selbstreflexiv und verhandelbar. Immerhin.

Platz für heroische Politik gibt es im Regierungsviertel an der Spree durchaus, aber eben klar eingegrenzt in den Gebäuden

Tritt man noch einen Schritt weiter zurück, kann man die Integrationsdebatte, so durcheinander sie auch abläuft und so viele Überreaktionen sie auch enthält, geradezu als Teil eines konservativen Bildungsromans lesen. Das, was früher für selbstverständlich gehalten wurde, das Eingebundensein, muss heute auch von ihnen bedacht und bearbeitet werden. Integrationsmöglichkeiten werden auch von Konservativen schon mal hinterfragt und auf ihre Funktionsfähigkeiten überprüft – und nicht als von vornherein gegeben vorausgesetzt. Das ist ein Fortschritt. Wer an die Entwicklungsmöglichkeiten von Gesellschaften glaubt (und hier am Spreebogen gibt es Hinweise darauf, dass das möglich ist), kann das befriedigt registrieren.

Dieser konservative Bildungsroman hat aber auch etwas Nachholendes; das alles wurde wirklich Zeit. Die rot-grüne Seite hat ihn, von ganz anderen Voraussetzungen aus, schon hinter sich gebracht, auch unter Schmerzen, aber letztendlich so gründlich, dass er von ihr inzwischen fast schon wieder vergessen werden konnte. Auch als Anfang Vierzigjähriger kann man sich aber noch an die Zeit erinnern, da es einfach das Letzte war, integriert zu sein; man sagte damals „etabliert sein“ dazu. Entwicklungsgeschichten, die mit der Integration des Helden in die Gesellschaft endeten, wurden als Ideologie entlarvt. Antibildungsromane wie „Blechtrommel“ oder „Fänger im Roggen“ waren Standard. Man wollte lieber Fundi oder Apokalyptiker sein, auf jeden Fall kein Integrierter. Und, auch das, eine Zeit lang grölte man beseelt bei Pink Floyd mit: „We don’t need no education.“ Wenn das die Bildungsministerin wüsste!

Während es den Konservativen also überhaupt erst gelingt, Integration als Problem wahrzunehmen, haben die Linken ihren Frieden mit ihr gemacht. Das erklärt vielleicht endgültig die Bedeutung, die dieses Thema in den vergangenen zwölf Monaten hatte: Beim Thema Integration treffen sich die konservativen und die rot-grünen Bildungsromane. Insofern gab es von vornherein die Tendenz, über die Beschreibung reiner Problemlagen hinauszugehen. Ein Stück weit ist die ganz große Integrationsdebatte auch eine Selbstverständigungsdebatte. Von beiden Seiten werden so die Bedingungen und Möglichkeiten einer liberalen Gesellschaft durchgespielt.

Ein letzter Moment noch, bevor es Richtung Friedrichstraße zur U-Bahn geht, noch ein letzter Blick auf Paul-Löbe-Haus, Spree und Kanzleramt, auf dieses so integriert wirkende politische Zentrum eines Landes, das mit dem zentralen Problem jeder Gesellschaft, die Integration ihrer Mitglieder zu gewährleisten, noch immer seine Schwierigkeiten hat. All die Dramen von verfehlter und auch glückender Integration (auch die glückende Integration ist ein Drama!) in der weiteren Umgebung! Und dann diese Ruhe und Idylle hier am Spreebogen! Gelegentlich kann einen auf einem solchen Spaziergang durchaus das Gefühl überkommen, im stillen Zentrum eines tobenden gesellschaftlichen Sturms zu stehen. Aber das ist ja wohl der Wind, den eine moderne Gesellschaft immer erzeugt, im ganz normalen Prozess ihres Integrierens – und der Probleme damit.

Platz für heroische Politik gibt es am stellenweise idyllischen Spreebogen durchaus, aber eben klar eingegrenzt in den Gebäuden. Da können die einen dann ihre im Grunde unpolitischen markigen Ruckreden aneinanderreihen, während man selbst diejenigen unterstützt, die sich mühen, das hehre gesellschaftliche Ziel, „Subjekte hervorzubringen, die immer neue und reichere Formen menschlichen Glücks erleben könnten“ (Richard Rorty), in tragfähige Kompromisse und konkrete Gesetzestexte zu überführen. Nicht leicht, weiß man ja. Wer aber auch immer von den Mitgliedern des Politikbetriebs hier im Zentrum der Welt zu sitzen meint, dem kann das Gelände sofort wieder den Kopf zurechtrücken. Nur die Spree entlang, Richtung Westen. Spätestens ab der Lutherbrücke wirkt das Areal stellenweise wieder wie aus der Welt gefallen. Eine Art Menetekel: denn die Integrationsproblematik höret niemals auf. Ein Besuch im Regierungsviertel aber schon.