FU zeigt Videoarchiv des Schreckens

Die Freie Universität macht 52.000 Interviews mit Überlebenden des Holocaust online zugänglich. Ob das der historischen Forschung viel nutzt, ist offen. Doch der Vermittlung von Wissen über die Shoa eröffnet das Projekt neue Möglichkeiten

VON STEFAN REINECKE

An der Freien Universität (FU) ist eines der größten Videoarchive über Holocaust-Opfer online zugänglich. „Wir haben es“, so FU-Präsident Dieter Lenzen gestern bei der Vorstellung, mit „unglaublich umfassenden, neuen Quellen“ zu tun. Die Zahlen sind beeindruckend. Die „Shoah Foundation für visual history and education“, 1994 von dem Filmregisseur Steven Spielberg gegründet, hat 52.000 Überlebende des Holocaust interviewt. Verfügbar sind nun 120.000 Stunden mündlicher Geschichtserzählung in 32 Sprachen, ein authentisches Panorama erlittener Geschichte. Bislang war dieses Material nur an fünf Unis in den USA zugänglich. Nun können auch Studenten, Gastwissenschaftler und Lehrende an der FU damit arbeiten. Weitere europäische Unis sollen folgen.

Das Faszinierende dieses Projekts verbirgt sich hinter einem spröden Begriff: „Verschlagwortung“. Die Shoah Foundation hat die Aussagen geradezu lückenlos erfasst und damit das voluminöse Material handhabbar gemacht. Es ist, so Douglas Greenberg, Direktor der Shoah Foundation, zum Beispiel möglich mit den Stichworten „Südkalifornien, 50er-Jahre, Migration“ aus den 52.000 Zeitzeugen jene zu filtern, die in den 50ern nach Kalifornien eingewandert sind. Oder jene Überlebende zu finden, in deren Aussagen ein bestimmtes ukrainisches Dorf eine Rolle spielt. Christopher Browning, Autor der Studie „Ganz normale Männer“, ist sogar der Ansicht, seine Recherche über ein Dorf in Südpolen nun von North Carolina aus betreiben zu können und nicht mehr nach Warschau reisen zu müssen.

Doch weit mehr als die Forschung wird die Lehre und Vermittlung von Wissen über den Holocaust profitieren. Der Zugriff über Stichworte ermöglicht Studenten und Interessierten ideale Bedingungen zu recherchieren, sich selbst ein Bild zu machen und die Aussagen der Überlebenden mit historischen Erkenntnissen abzugleichen. Der Wert des Archivs, so FU-Professor Hajo Funke, liegt in der „opferzentrierten Perspektive“.

Wo bleibt das Negative? Es gibt drei kritische Punkte. Eine wesentliche Einschränkung ist die Sprache. Gut die Hälfte der 52.000 Zeitzeugen sprechen englisch, 900 deutsch, etwa 7.000 russisch, mehr als 6.000 hebräisch. Es gibt weder schriftliche Übersetzungen noch Untertitel. Somit kann, wer deutsch und englisch spricht, nur die Hälfte nutzen.

Zweitens ist die Zugänglichkeit auf die FU beschränkt. Dass das Material nicht frei im Internet zur Verfügung steht, liegt nicht nur an der enormen Datenmengen und technischen Überforderungen. Es gilt auch, so Douglas Greenberg, die Privatsphäre jener zu schützen, über die Zeitzeugen sprechen. Eine „wilde Nutzung“ (FU-Präsident Lenzen) soll es nicht geben, auch um zu verhindern, dass Holocaustleugner das Material verfälschen. Ob private Interessenten Zugang bekommen, ist noch offen. „Wir fangen ja erst an“, so Lenzen. Interessierte Organisationen, wie das Haus der Wannseekonferenz, werden gewiss beteiligt werden. Ansonsten hängt wohl viel davon ab, wie stark die Nachfrage ist. Denn das Ziel ist, so Greenberg, trotz aller Vorsicht klar: Möglichst viele sollen mit dem Material arbeiten.

Drittens fragt sich, ob dieses Projekt nicht zu einer Überschätzung des Bildes und des Subjektiven führt. Die Aussagen der 52.000 Zeitzeugen sind, so Greenberg, nicht auf ihren Wahrheitsgehalt überprüft worden. Die Interviews sind nicht bearbeitet und geschnitten. Ihr Wert ist die Authentizität – und dies auch ihre Grenze. Es sind Quellen, die, wie alle historischen Dokumente, nur im kritischen Vergleich aussagekräftig sind.

Dieses Material wird in einem besonderen Moment veröffentlicht. Die Zeitzeugen des Holocaust verschwinden derzeit. Was unmittelbare, erzählte Geschichtserzählung war, wird zur mittelbaren, überlieferten. Spielbergs Projekt ist der Versuch, das Verschwindende festzuhalten. Anfangs mochte man das nur für eine pathetische Geste halten. Aber nun ist es seriöses Material geworden, mit dem Historiker arbeiten können.

Werner Bab ist einer von jenen 52.000 Befragten. Der Berliner Jude überlebt Auschwitz. Gestern sagte er in der FU: „Berlin ist der richtige Ort für dieses Archiv.“

Internet: www.vha.fu-berlin.de