So liest sich Pynchon

VON TOBIAS RAPP

1. Seit Anfang der Woche ist „Against The Day“, der neue Roman von Thomas Pynchon, im Original auch in Deutschland erhältlich. Sie wollen ihn lesen? Nutzen Sie das Internet!

Nicht nur, um das Buch zu bestellen (sollten Sie keinen Buchladen in der Nähe haben, der englischsprachige Bücher führt). Es gibt unzählige Homepages, die sich dem Werk von Thomas Pynchon verschrieben haben. Wenn Sie etwas wissen wollen, googeln Sie einfach. Ansonsten ist pynchonwiki.com unerlässlich: ein ständig weiterwucherndes Anmerkungsuniversum zu „Against The Day“. Mit Bildern!

2. Sie können aber auch noch einen Augenblick auf die deutsche Ausgabe warten.

„Against The Day“ im Original zu lesen ist nicht das Gleiche, wie sich einen Godard-Film auf Französisch anzuschauen: Hier helfen keine Bilder über die Worte hinweg, die man nicht versteht. Hier gibt es nur Worte. Viele sind so obskur, dass nicht mal Muttersprachler genau wissen, was sie bedeuten. Oder haben Sie eine Ahnung, was „dagga rookers“, „icosahedrons“ oder „cheerful majolica cuspidors“ sind? Umgekehrt wird die englischsprachige Leserschaft beim Original einige Schwierigkeiten mit Begriffen wie „Schnurrbartbinde“ oder „das Nichtharmonischestrahlenbündel“ bekommen. Pynchon lesen heißt an der richtigen Stelle Komplexität reduzieren. Also: keine Bildungshuberei, wenn sie gegen einen arbeitet! Man kann Pynchon guten Gewissens auf Deutsch lesen, die Übersetzungen sind ausgezeichnet („Die Enden der Parabel“ hat Elfriede Jelinek übertragen). Außerdem ist die Übersetzung von „Against The Day“ in Arbeit. Laut Rowohlt Verlag kann man im Frühjahr 2008 mit einer deutschen Ausgabe rechnen. Was auch seinen Vorteil hat – es lässt genügend Zeit zur Vorbereitung.

3. Tipp für Pynchon-Beginner: Die Reihenfolge ist egal, aber fangen Sie nicht mit „Die Enden der Parabel“ an!

Es mag Pynchons bestes Buch sein. Und der beste Roman über die unmittelbare Nachkriegszeit in der „Zone“, wie er Deutschland nennt. Aber für den Anfang ist es schlicht zu viel. Fangen Sie mit „Die Versteigerung von No. 49“ von 1966 an, ein wunderbarer kleiner Verschwörungsroman über die Machenschaften der Postmonopolisten und den Widerstand dagegen (außerdem führt es ganz nebenbei mit Wendell „Mucho“ Maas den DJ in die Weltliteratur ein, am Schluss gibt es sogar ein Konzert mit elektronischen Instrumenten).

4. Thomas Pynchon gilt als ein schwieriger Autor. Lassen Sie sich nicht abschrecken! Und schenken Sie den Kritikern keinen Glauben!

In den USA ist „Against The Day“ bei der Kritik überwiegend durchgefallen. Der Roman sei unausgegoren, ihm mangele es an Struktur und der Autor wisse vor lauter Kleingeschichten nicht, was er eigentlich erzählen wolle. Womit passgenau umrissen wäre, warum man mit Thomas Pynchon Schwierigkeiten bekommen kann. Seine Bücher erschließen sich einem Kritiker, der einen drängelnden Redakteur am Telefon hat, nur widerwillig. Sie sind komplex und öffnen ein Universum, das seiner eigenen Logik folgt. Darauf muss man sich einlassen. Dann aber fliegen einem die erstaunlichsten Einsichten zu. Und das ziemlich mühelos. Kann man das nicht, wird es schwierig.

5. Keine Angst: Egal, wie Sie Ihre Pynchon-Lektüre organisieren, Sie können gar nichts falsch machen.

Es dürfte kein Werk eines Schriftstellers der vergangenen fünfzig Jahre geben, über das so viel nachgedacht und geschrieben worden ist, wie das von Thomas Pynchon. Es dürfte (neben Arno Schmidt) auch keinen geben, dem eine derart nervensägende und besserwissende Fangemeinde hinterherschlurft. Das hat alles nichts zu bedeuten. Am Ende ist man mit dem Buch und seinen Erfahrungen alleine – und da ist detailliertes Wissen in einem so abgelegenen Feld wie der Handhabung optischer Geräte im 18. Jahrhundert oder kulturwissenschaftliche Einsicht in die Bedeutung von Süßigkeiten für das Wohlbefinden der Londoner Zivilbevölkerung der Jahre 44/45 genauso viel wert wie die Erinnerung an den letzten LSD-Trip. Man kann eben nie alles haben.

6. Apropos Pop- und Gegenkultur!

Es gibt wenige Schriftsteller, die in ihr Werk so kenntnisreich und liebevoll popkulturelle Bezüge eingewoben haben. Nicht nur wegen der Songs, die die Protagonisten alle paar Kapitel anstimmen (und die tatsächlich die Parallellektüre des Originals rechtfertigen). Mit „Vineland“ hat er sogar ein ganzes Buch dem traurigen Niedergang der kalifornischen Counterculture Ende der Siebziger gewidmet. Und er beschränkt sich nicht auf die USA: Mit Emil „Säure“ Bummer schuf Pynchon in „Die Enden der Parabel“ nicht nur den bis heute gültigen Prototyp des Berliner-Ökonomie-Profiteurs und Clubkultur-Schiebers. Der Chicago-Club, in dem Bummer herumhängt und weißes Pulver unter die Leute bringt, würde sich heute After-Hour-Club nennen. Der Hinterhof wäre wahrscheinlich noch der gleiche.

7. Nur weil sich zwischen zwei Dingen keine gerade Linie ziehen lässt, heißt das noch lange nicht, dass sie nichts miteinander zu tun haben!

Ob es der Buchstabe „V“ ist, dessen Auftauchen die Welt von Herbert Stencil zusammenhält, ob es das Haus derer von Thurn & Taxis ist, die vom gegenverschwörerischen W.A.S.T.E.-Netz bekämpft werden, ob es Tyrone Slothrop ist, der an allen möglichen geheimdienstlichen Fäden zur deutschen V2-Rakete gezogen wird, oder ob es die Gegenkultur im Kalifornien der Siebziger ist, die gründlich vom FBI unterwandert ist: Thomas Pynchon ist der große Paranoiker der Weltliteratur. Seien Sie bereit, Ihm zu glauben.

8. Achten Sie auf die Seeleute!

Nicht nur, weil das letzte bekannte Foto von ihm Pynchon 1957 in Matrosenuniform zeigt. Seeleute spielen in seinem Werk eine wichtige Rolle. Zum einen handeln alle seine Romane von Bewegung, von der Freiheit, die es bedeutet, Fluchtlinien in den Raum schlagen zu können. Zum anderen geht es bei Pynchon auch immer um den groben Spaß, die Ausschweifung, die sich von keinerlei Bedenken oder Moralvorstellungen reinreden lassen will. Und wo findet man das? In den Spelunken der Rotlichtviertel am Hafen. Am schönsten wird diese Dialektik von Pig Bodine verkörpert, eine der schönsten Pynchon-Figuren, die in fast allen seiner Romane auftaucht. Ein rauflustiger und schwanzgesteuerter Seemann, der die Taschen voll mit Dope hat und immer für ein flottes Abenteuer zu haben ist. Auch in „Against The Day“ hat er wieder seinen Part.

9. Beschäftigen Sie sich ein wenig mit Technikgeschichte.

Man kann Pynchon als Kritiker der technischen Zivilisation lesen, als Aufklärungsdialektiker, der dem technischen Fortschritt gerne und ausführlich die dazugehörige Zerstörungsgeschichte erzählt. Das ist das eine. Trotzdem gibt es kaum einen anderen Schriftsteller, der technischen Gerätschaften so detailgenaue, liebe- und fantasievolle Beschreibungen widmet. Die V2-Rakete! Alte Fernrohre! Telegraphen! Wenn Sie sich wirklich auf „Against The Day“ vorbereiten wollen, sollten Sie dieses Wissensgebiet vertiefen – denn da soll es nur so wimmeln von unsichtbaren Luftschiffen, Fregatten, die sich wie U-Boote unterm Wüstensand bewegen, und selbstgebauten bemannten Torpedos.

10. Keine Angst vor sprechenden Hunden.

Auch sie tauchen regelmäßig in Pynchons Büchern auf. Manchmal lesen sie sogar Henry James.

11. Machen Sie sich nicht zu viele Gedanken um Thomas Pynchon selbst!

Ja, er gibt keine Interviews. Nein, niemand weiß, wie er aussieht. Ja, er hatte mehrere Gastauftritte bei den „Simpsons“, mit Papiertüte über dem Kopf, er soll die Stimme sogar selbst eingesprochen haben. Das alles hat aber nicht übermäßig viel zu bedeuten. Es gibt zwar Grund zu der Annahme, dass Pynchon die modernen Massenmedien nicht sonderlich schätzt. Trotzdem kann man davon ausgehen, dass seine selbstgewählte Anonymität kein kulturkritisches Statement und auch kein Versteckspiel mit den Medien ist. Thomas Pynchon ist auch kein Phantom. Viel wahrscheinlicher ist, dass er schlicht und einfach keine Lust hat, eine Person des öffentlichen Lebens zu sein. Prominent sein ist ja auch eine gigantische Zeitverschwendung.