Intelligenz ist gut, Entspannung möglich

Schriften zu Zeitschriften: „Sinn und Form“ kehlmannisiert sich, „Kultur & Gespenster“ übt literarische Interviews, „Sprache im technischen Zeitalter“ liefert Autoren-Selbstporträts, und „Bella triste“ lernt schöner foltern

„Alles können, wie ein alter Zauberer: Das macht den Schriftsteller aus.“ So notierte es sehnsüchtig-wissend 1935 der österreichische Romancier Heimito von Doderer, lange bevor er als Autor Erfolg hatte. Seit einiger Zeit hat sich ein anderer Schriftsteller aus Wien auf den Weg zur Alleskönnerschaft gemacht: Daniel Kehlmann, Jahrgang 1975. Nach dem gigantischen Verkaufserfolg seines Romans „Die Vermessung der Welt“ – befeuert von den „Go, Kehlmann, go!“-Rufen der taz – spielt der junge Kehlmann schon jetzt die Rolle eines alten Zauberers. Er wehrte die Zwiebelattacke von Günter Grass ab und ringt momentan mit Buchpreisgewinnerin Katharina Hacker („Die Habenichtse“) um den Spitzenplatz der Bestsellerlisten, auf dem er endlose Monate unangefochten thronte. Karibikreportagen für Park Avenue meistert er ebenso wie die Befragung des 88-jährigen russischen Nobelpreisträgers Alexander Solschenizyn für Cicero.

Ebendort stößt man auf Kehlmanns monatliche Kolumnen über seine Lieblingsbücher, überall auf seine Dankreden für die auf ihn niederpurzelnden Preise, auf ganzseitige Interviews und Essays – diesem neuen Großschriftsteller kann man nirgendwo entkommen. Die flächendeckende Kehlmannisierung des deutschen Feuilletons dürfte der wichtigste kulturelle Trend des Jahres 2006 gewesen sein.

Wie macht der Mann das nur? Einige Hinweise gibt die aktuelle, schön komponierte Ausgabe von Sinn und Form, deren Texte Literatur und Autobiografisches subtil miteinander verweben und unter anderem Doderers Notizbücher der Jahre 1923 bis 1939 aus den Tiefen des Archivs emporholen. Kehlmann gibt es gleich dreifach: seine Dankrede, natürlich für den Doderer-Preis, in der auf drei Seiten, na klar, Buddha, Leibniz, Kafka, Goethe, Flaubert, Nabokov, Pynchon und Bernhard ihren Auftritt haben; eine begeisterte Laudatio auf Kehlmann sowie eine amüsante intellektuelle Plauderei zwischen dem Autor und Chefredakteur Sebastian Kleinschmidt, dessen Kommentare sich allzu sehr spreizen („Da fällt mir Schopenhauer ein. Kennen Sie seinen Witz über Newtons Farbenlehre?“). Im Zwiegespräch über sein literarisches Werk verweist der Schriftsteller auf die Schreibsorgen („Um Gottes willen, was machst du da, bist du plötzlich Karl May geworden?“) und die Vorteile der Hochbegabung: „Wer schneller denkt, nutzt seine Zeit besser und hat dadurch, relativ gesehen, mehr Zeit zur Verfügung als die Leute um ihn herum.“ Liegt darin Kehlmanns Geheimnis? Sein Erfolg erinnert an die „Geschichte eines maximal anerkannten begabten Kindes“ (Kehlmann über seine Romangestalt, den Mathematiker Gauß). Die Symbiose aus Formulierungskunst und Gelehrsamkeit machen ihn zudem auf ideale Weise feuilletonkompatibel.

Um das literarische Interview geht es auch im Schwerpunkt der zweiten Ausgabe von Kultur & Gespenster, dem avancierten Kunst-Kultur-Theorie-Mix aus Hamburg. Adventsstimmung weckt dieser unhanseatisch barocke 400-Seiten-Wälzer, in den man sich nicht zuletzt wegen seiner ästhetischen Anmutung gerne versenkt. Die Autorin Kathrin Röggla spürt dem allmählichen Verfertigen der Gedanken beim Reden nach; in zwei anderen Beiträgen gerät sie dann selbst mit ihren Büchern „really ground zero“ und „wir schlafen nicht“ auf die Analysecouch. Altmeister Alexander Kluges Gesprächstechniken werden seziert und der große Verweigerer Thomas Bernhard bekommt seinen grandiosen postumen Auftritt in einem hier erstmals auf Deutsch veröffentlichten Interview aus dem Jahr 1986. Er haut dem Fragesteller seine Wahrheiten um die Ohren: „Das Leben besteht in einer Aneinanderreihung von Blödsinn.“ Als Künstler kennt er die Grenzen der Theorie: „Wenn man sein Handwerk beherrscht, braucht man ja keine Reflexion.“

Über das Handwerk der jeweiligen literarischen Gegenwart reflektiert seit mehr als vier Jahrzehnten die Zeitschrift Sprache im technischen Zeitalter. Wovon zehren die heutigen Schriftsteller, die nicht mehr zu der wirkmächtigen Grass-Walser-Enzensberger-Generation gehören? Im anregenden September-Heft gewähren sechs Autorinnen und Autoren tiefe Einblicke in ihr Schreiberherz inklusive Lektüreerfahrungen: Marcel Beyer, Ulrike Draesner, Georg Klein, Katja Lange-Müller, Ulrich Peltzer, Burkhard Spinnen. Georg Klein bekämpft seine „Vergangenheitssucht“, die ihr „pompöses Unwesen“ treibt mit einer durch sein Leben geisternden drogensüchtigen Mephistofigur aus seiner Augsburger Jugend, die ihn zum Schreiben treibt. Ähnlichkeiten aller bündelt Ulrike Draesner: „Intelligenz ist gut, Komik ihre Schwester, Schönheit willkommen, Entspannung möglich, Überraschung dabei.“

Schreiben bleibt gefährlich, wie Terezia Mora im aktuellen Heft der Literaturzeitschrift Bella triste berichtet: „Ich musste eine Gewaltszene schreiben und bin fast daran krepiert.“ Die 1970 in Ungarn geborene Bachmann-Preis-Trägerin von 1999 schildert in einem starken Essay ihre Erfahrungen mit ihrem 2004 erschienenen Romanerstling „Alle Tage“. „Vom eigenen Roman traumatisiert“ erlebt sie sich noch in der Erinnerung: „Heulen und Zähneklappern“ angesichts einer „guten“ Folterszene. Aber die Zauberin Mora weiß: „Kunst muss“, nach Moras Definition, „weit genug gehen.“ Weit genug zu gehen heißt, „jemanden zu berühren“. So wird man irgendwann alles können.

ALEXANDER CAMMANN

Sinn und Form, 6/2006, 9 € www.sinnundform.deKultur & Gespenster, Nr. 2, Herbst 2006, 12 €, www.kulturgespenster.deSprache im technischen Zeitalter, Heft 179, September 2006, 11 €, www.spritz.deBella triste, Nr. 16, November 2006, 4 €, www.bellatriste.de