Ohne Post von den Schülern droht Burn-out

Der Psychiater Andreas Hillert behandelt depressive Lehrer. Bei einer Veranstaltung der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft erntet er für seine Erfahrungen Gelächter – weil einige Zuhörer ihren Ohren kaum trauen

Am besten merkt sich der Mensch Beispiele, sagt der Arzt Andreas Hillert und fängt an zu erzählen. Von einer niederbayerischen Lehrerin, die in Hillerts Klinik in Prien am Chiemsee kam, um sich behandeln zu lassen. Keinen Beinbruch, kein Rheuma, sondern eine handfeste Depression hatte sie mitgebracht, sagt Hillert, Oberarzt für Psychiatrie und Psychotherapie, mit leicht rollendem R. Dann macht der 45-Jährige eine Kunstpause – er testet die Reaktion des Publikums – und fährt fort: „Die Lehrerin dachte, ihre Schüler mochten sie nicht mehr, weil sie irgendwann keine Postkarten mehr aus dem Urlaub geschrieben haben.“

Hillerts Publikum am Dienstagabend, rund 100 Berliner LehrerInnen, lacht kurz auf. Zwischen den Stuhlreihen in der Bibliothek der Friedensburg-Oberschule in Charlottenburg hört man einige zynische Kommentare. Postkarten von Schülern? Aus dem Urlaub? Unglaubliche Geschichten aus dem gelobten Bildungsland Bayern? Mitnichten. Hillert erklärt: „Die Frau war alleinstehend. Ihr soziales Netz waren die Schule und die Schüler. Wenn das wegbricht, kracht eine Welt zusammen.“ Solche Lehrerinnen gibt es auch in Berlin.

Deswegen hatte die Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft (GEW) Hillert eingeladen. Er sollte aus seinem Berufsalltag erzählen. Bis zu 250 LehrerInnen behandelt er pro Jahr wegen berufsbedingter Depressionen. „Aus allen Schularten“ kämen die Patienten, betont er und widerlegt das Klischee, wonach Lehrer aus Hauptschulen eher krank werden als ihre Kollegen von den Gymnasien, die, so die Mär, Engel unterrichten.

Breit gefächert sind nach den Erfahrungen des Mediziners die Ursachen für die Depression, die auch als Burn-out bekannt ist: Sehen die einen die Schuld bei den ungezogenen Schülern, sind für andere die ständigen „Innovationen“ des Kultusministeriums Ursache der Überforderung. Selber schuld will kaum einer sein: „Jeder denkt, er sei ein guter Lehrer“, sagt Hillert.

Oft, so der Arzt, merken Lehrer noch nicht einmal, dass sie ausgebrannt sind. Schlafmangel und Konzentrationsstörungen empfänden sie als normal, wie ein weiteres von Hillerts Beispielen zeigt: Jahrelang hatte sich ein Hauptschullehrer rührend um den Schulgarten gekümmert, auch in seiner Freizeit. Bei einer Visite der damaligen Kultusministerin habe sich der Rektor der Schule dann mit dem angeblich von ihm betreuten Garten gebrüstet – in Anwesenheit des eigentlichen Schulgartenbetreuers. Das brachte bei diesem das Fass zum Überlaufen: Er landete schließlich bei Hillert, wo sich herausstellte, dass Schlafmangel und Konzentrationsstörungen schon lange ständige Begleiter des Lehrers gewesen waren.

Energisch widerspricht Hillert auch Mythen, wonach Depression eine unheilbare Geisteskrankheit sei. „Die Therapie bei uns kostet Schweißperlen“, verspricht er, „wenn Sie es in Wochenstunden rechnen wollen, sind es 30.“ DOMINIK SCHOTTNER