Ost? West? Literatur!

Orhan Pamuk, die Nobelvorlesung und die Frage, wie politisch eine unpolitische Geste sein kann

Es dürfte nicht viele Menschen geben, die, wenn ihnen der Nobelpreis für Literatur zuerkannt wird, als Erstes dazu anheben würden, von ihrem Vater zu erzählen. Orhan Pamuk hat das in seiner Nobelvorlesung getan. Doch das war weder einem ausgeprägt orientalischem Familiensinn geschuldet, wie man vermuten könnte, noch war es die Flucht eines politisch umstrittenen Autors ins unverfänglich Private.

Viele Preisträger haben sich in ihren Nobelvorlesungen explizit politischen Themen gewidmet, bei Harold Pinter mündete das im vergangenen Jahr sogar in eine ellenlange Suada gegen die britische und US-amerikanische Außenpolitik. In seiner Rede bekennt sich Orhan Pamuk zu einem altmodischen, fast mönchischen Ideal des Schriftstellerdaseins und beschwört Werte wie Handwerk, Fleiß und Geduld. Und er beschreibt das Paradox, wie aus dem bewussten Rückzug aus der Gesellschaft in die Abgeschiedenheit der eigenen Schreibstube, um dort aus sich selbst heraus eine eigene Welt zu erschaffen, ein intensiver Dialog mit der Welt entstehen kann. Denn, wie Orhan Pamuk in einem ironischen Seitenstrang seiner sorgfältig komponierten Rede aufzählt: Unter anderem sei er deshalb Schriftsteller geworden, weil er die Welt nur ertrage, wenn er sie verändern könne.

Sein Innerstes kehrt Pamuk nach außen, wenn er sich als literarischen Musterschüler beschreibt, der gerne gefallen will und dem auch streberhafte Züge nicht fremd sind. Mit diesem Image, das ihm insbesondere in der Türkei anhaftet, kokettiert Pamuk durchaus. Als ihn etwa der Anruf aus Stockholm ereilte, mit dem er über den Nobelpreis unterrichtet wurde – das Gespräch wird traditionell aufgezeichnet und findet sich auf der Nobelpreis-Webseite transkribiert –, sagt er spöttisch am Ende des Gesprächs: „Wie Sie sehen, bin ich ein guter Junge. Ich habe meine Hausaufgaben jetzt sehr gut gemacht.“

Es ist diese ironische Distanz zu sich selbst und seinem Land, die Orhan Pamuk zu einem führenden Schriftsteller gemacht hat. Orhan Pamuk hat seine eigene Sprache gefunden und seine eigene Art, Geschichten zu erzählen. Und er hat seine Heimatstadt Istanbul ins Zentrum der Weltliteratur gerückt und einen Begriff wie hüzün, diese spezifisch türkische Form der Melancholie, einem Weltpublikum nahe gebracht.

Aber Orhan Pamuk ist natürlich bei alledem ein politisch denkender Mensch. Aus einer zutiefst humanistischen Überzeugung heraus hat er sich zu politischen Themen geäußert und sich in der Vergangenheit vor allem für Schriftstellerkollegen eingesetzt, deren Recht auf Meinungsfreiheit bedroht war. Seine Romane feiern die Individualität und pluralistischen Sichtweisen – keine Selbstverständlichkeit in der Türkei. Doch nicht nur in diesem Land, das – wie Orhan Pamuk beklagt – an Überpolitisierung leidet, passt er damit in keines der vorherrschenden Lager. Auch in einer weltpolitischen Großwetterlage, in der die Rhetorik vom „Kampf der Kulturen“ das Bewusstsein verformt, fällt er zwischen die Raster von „Ost“ und „West“. Deshalb stellt der Nobelpreis an Orhan Pamuk unvermeidlich ein Politikum dar, ob er das nun will oder nicht. Auch wenn das Nobelpreiskomitee noch so sehr betont, dass Orhan Pamuk in erster Linie für seine schriftstellerische Leistung ausgezeichnet wird.

DANIEL BAX